In ihrem zweiten Roman, «Vierundsiebzig», schreibt Ronya Othmann über das Schicksal ihres Vatervolks, der Jesiden. Und warnt vor dem langen Arm Erdogans, der sich im Westen durch eine Boykottkultur und Streitangst zeigt.
Im Hochsommer 2014 verübte der Islamische Staat (IS) in Sinjar im Nordirak einen Genozid an den Jesiden. Ursprünglich im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei beheimatet, sind die Jesiden eine ethnisch-religiöse Gruppe mit etwa einer Million Angehörigen. Zu ihnen zählt auch die Schriftstellerin Ronya Othmann.
Othmann ist in Deutschland, der Heimat ihrer Mutter, geboren und aufgewachsen. Dabei waren die jesidische Familie und die Kultur des Vaters immer präsent. In ihrem Roman «Vierundsiebzig» arbeitet die 31-jährige Journalistin und Autorin den Genozid als historisches Ereignis und als familiären Schicksalsschlag auf. Ein Buch wie ein Spagat zwischen Beobachtung und Betroffenheit.
Frau Othmann, seit dem Genozid gibt es das Heimatdorf Ihres Vaters, wo Ihre Verwandten lebten und in dem auch Sie die Sommer Ihrer Kindheit verbrachten, nicht mehr. Wie fühlt sich ein solcher Schrecken aus der Ferne an?
Der 3. August 2014 war ein Schock. Ich konnte kaum glauben, dass das wirklich geschah. Und dass das Leben in Deutschland einfach weiterging. Der Alltag blieb nach dem Genozid eigentlich gleich, in Deutschland hatte sich nichts verändert. Gleichzeitig hat der Genozid mein Leben komplett auf den Kopf gestellt.
Lebte Ihre Familie zum Zeitpunkt des Genozids noch im Irak?
Als sich der IS auch in Syrien ausbreitete, haben wir meine Grossmutter, meinen Onkel, seine Frau und ihre Kinder nach Deutschland holen können. Aber ja, ich habe auch Verwandte aus Sinjar im Irak. Gott sei Dank besassen sie ein Auto, mit dem sie vor dem IS fliehen konnten.
Etwa 250 000 Jesiden leben in Deutschland, das ist die grösste jesidische Diaspora überhaupt. Dennoch sind die Jesiden vielen hier unbekannt. Warum?
Es ist eine Religion, die niemanden konvertieren will. Und nach Jahrhunderten der Verfolgung hat man gelernt: Wir halten uns bedeckt.
Wenn nicht aufzufallen zu einer Art Reflex geworden ist: Was hält Ihre Familie davon, dass Sie nun ein erfolgreiches Buch – es stand unter anderem auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises – über Ihre jesidische Herkunft, die Geschichte Ihrer Familie und den Genozid geschrieben haben?
Nicht auffallen heisst ja nicht, dass man alles mitmacht. Meine Familie hat mich bei den Recherchen unterstützt. Ohne die Hilfe meines Vaters hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Viele Jesiden wollen, dass die Geschichte gehört und nicht vergessen wird. Ich denke, dass das Schweigen uns nicht schützt. Mein Vater konnte diese Geschichte nicht schreiben, ich konnte es.
Warum konnte er es nicht – Sie aber schon?
Mein Vater ist in einem jesidischen Dorf aufgewachsen. Es gab keinen Strom und Wasser nur aus einem Brunnen. Die Kinder sind an Kinderkrankheiten gestorben, auch die Hälfte seiner Geschwister. Es gab keine medizinische Versorgung, meine Grosseltern sind Analphabeten. Erst mein Vater hat die Schule besuchen können, durfte dann aber als Staatenloser nicht studieren. In ihrem Dorf in Syrien war seine Familie eine Minderheit in der Minderheit: staatenlose Kurden und dann noch jesidisch.
Hat Ihr Vater diese Vergangenheit hinter sich gelassen?
Mein Vater hatte als junger Mann, glaube ich, den Traum von Freiheit und Individualität. Ohne dass er je mit dem Jesidentum gebrochen hätte, ist er dennoch ausgebrochen. Religion spielte für ihn nie eine grosse Rolle.
Und für Sie?
Durch den Genozid von 2014, als Jesiden systematisch ermordet wurden, hat bei vielen eine Rückbesinnung auf das Jesidische stattgefunden. Auch bei mir. Das hat weniger mit Religiosität zu tun als mit Gemeinschaft. Wenn die eigenen Verwandten mit dem Auto fliehen konnten und darum leben, während das Auto der Nachbarn stecken blieb und sie alle vom IS umgebracht wurden, und wenn man selbst vielleicht nur noch da ist, weil man Gott sei Dank in Deutschland lebt, dann gehört man eben dazu. Man ist mitgemeint. Der IS kam, um die Jesiden zu vernichten.
Zumindest in Deutschland sind Sie zu einer Art Sprachrohr für diese Gemeinschaft geworden. Fühlen Sie sich damit wohl?
2014 sah ich im Internet die Bilder der Toten und Verletzten. Menschen mit Kleidern, wie sie meine Familie trägt. Auf den Listen der Verschleppten stehen die Namen von Frauen, die gleich heissen wie meine Schwester, meine Oma oder meine Tante. Das hat für mich die Frage dringlich gemacht: Wer spricht darüber? Wir sind ja nicht so viele.
Sie haben das als Ihre Aufgabe erkannt?
Es hat sich aufgedrängt. Es war nicht so, dass ich mit dem Ziel, ein Buch zu schreiben, zu meinen Verwandten gefahren bin. Ich wollte sie einfach besuchen. 2018 war ich dann dort, vier Jahre nachdem der IS eingefallen war. Ich war mitten im Studium und kam nicht davon los, dass ich gerade ein Leben führe, das andere nicht führen können. Dass ich studiere, während andere Frauen in Gefangenschaft vergewaltigt werden.
Das klingt nach einer unerträglichen Gleichzeitigkeit.
Ja, man kriegt es manchmal fast nicht zusammen. Ich habe versucht, bei der Recherche immer wieder eine gewisse Distanz zu bekommen, damit ich darüber schreiben kann. Aber dann sitze ich in irgendeinem Zelt in den Flüchtlingscamps, die nun seit zehn Jahren stehen, und die Kinder haben dasselbe Armband, das ich auch trage, weil wir es jedes Jahr zu Çarşema Sor, dem jesidischen Neujahr, bekommen.
Sie schreiben in Ihrem Buch auch über Frauen, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurden.
Das war für mich das schwierigste Thema überhaupt. Diese Frauen, nachdem sie das alles erlitten und überlebt haben – Genozid an ihren Familien, Verschleppung, Vergewaltigung, Schwangerschaft, Geburt in Gefangenschaft –, werden vor eine Wahl gestellt: Wenn sie zu ihrer jesidischen Gemeinschaft zurückkehren wollen, müssen sie ihre Kinder beim IS oder in Waisenhäusern zurücklassen. Das ist grausam.
Weil die Kinder nach islamischem Recht die Religion vom Vater erhalten – also nicht Jesiden, sondern Muslime sind –, akzeptieren die jesidischen Gemeinschaften sie nicht.
Ich höre immer wieder Geschichten von Frauen, die aus der Gefangenschaft freikamen und dann plötzlich wieder verschwanden: Weil sie es nicht ertragen, von ihren Kindern getrennt zu sein, gehen sie zurück zu den Tätern – und ihren Kindern. Das ist so brutal. Meiner Meinung nach muss die jesidische Gemeinschaft diese Kinder akzeptieren. Aber es liegt nicht nur an der jesidischen Gemeinschaft, sondern auch am islamischen Familienrecht im Irak und in Syrien. Weil sich daran nichts ändert, müssten europäische Länder Sonderkontingente für diese Frauen und ihre Kinder einrichten.
So etwas war in Deutschland bereits im Gespräch.
Aber es wird nicht passieren, weil die Stimmung im Land sehr flüchtlingsfeindlich ist. Statt Sonderkontingente aufzusetzen, schiebt Deutschland Jesiden in den Irak ab. Dort herrscht weiterhin eine jesidenfeindliche Stimmung. Leute drohen offen mit einem neuen Genozid. Es gibt sehr viel Hetze.
Anfang Jahr wurden Sie von einem Literaturfestival in Pakistan ausgeladen, bei dem Sie aus Ihrem ersten Roman, «Die Sommer», hätten lesen sollen. Es hiess, Sie hätten sich zionistisch und antimuslimisch geäussert.
Ich dachte ja, vielleicht gibt es Ärger, weil ich vorher in Indien war und einen indischen Stempel im Pass hatte. Aber die Einreise verlief problemlos. Erst danach kamen die ersten Kommentare gegen mich. Und als wir, vom Flughafen herkommend, beim Hotel angelangten, hatte die Frau, die meine Lesung moderieren sollte, bereits abgesagt.
Was genau hat man Ihnen vorgeworfen?
Es gab diesen offenen Brief, und der grösste Vorwurf darin war, dass ich Lügen verbreiten würde über die Vergewaltigungen von jüdischen Frauen durch die Hamas am 7. Oktober – das sei alles gar nicht passiert. Weil ich in einer Kolumne über dieses Phänomen der Vergewaltigung als Kriegswaffe geschrieben hatte und auch darüber, dass es eben geleugnet wird, warf man mir vor, israelische Propaganda zu verbreiten. Das hatte ich natürlich nicht getan, die Verbrechen der Hamas, auch die systematische sexualisierte Gewalt, sind sehr gut dokumentiert. Dazu kam der Vorwurf, dass ich als Jesidin sowieso schlecht über den Islam spreche.
Hat der 7. Oktober Sie denn besonders getroffen?
Ja, weil es Parallelen zum Genozid an den Jesiden gibt. Die Hamas und der IS sind keine Verbündeten, aber man kann davon ausgehen, dass sie sich gegenseitig kopieren. Beide haben zum Beispiel Videos ihrer Angriffe ins Internet gestellt. Das ist maximaler Terror. Auch der Überfall auf Zivilisten in den frühen Morgenstunden – solche Dinge passieren oft am Morgen. Dazu eben die systematische sexualisierte Gewalt.
Mit den Anschuldigungen wegen Zionismus und Antiislamismus hat man Sie in grosse Gefahr gebracht. In einigen muslimischen Ländern kann der Vorwurf des Zionismus ein Todesurteil sein.
Man hat mich auch aus Sicherheitsgründen vom Festival ausgeladen. Es gibt sehr viele Islamisten in Pakistan, das kann schnell gefährlich werden. Als der offene Brief publiziert wurde, musste ich auch sofort aus dem Hotel weg. Denn alle wussten: Die Autoren wohnen dort.
Konnten Sie mit der Moderatorin über die Beweggründe für ihr Verhalten sprechen?
Das wollte ich unbedingt. Darum habe ich mich über den Hintereingang an den Empfang der deutschen Botschaft schleusen lassen, an dem sie teilnahm. Ich habe sie gefragt, was ich denn gesagt hätte, das so problematisch für sie sei. Sie sagte, das Problem sei meine zionistische Position. Dann habe ich gefragt, worin diese sich denn zeige und was mir eigentlich vorgeworfen werde. Ihre Antwort: «Das wissen Sie ja selber am besten.»
Sie konnte Ihnen also gar nicht sagen, warum sie Sie boykottiert hat?
Nein – und dann habe ich auch noch erfahren, dass sie meine Kolumnen und vor allem mein Buch gar nicht gelesen hat. Obwohl sie mir am nächsten Tag ja eigentlich Fragen zum Buch hätte stellen müssen. Die Moderatorin hatte mehrere Veranstaltungen, unsere Lesung war erst einen Tag vorher abgesagt worden – wann hätte sie das Buch denn noch lesen sollen? Ich habe das für mich im Nachhinein so zusammengesetzt, dass ihr schon viel früher klar war, dass sie meine Lesung nicht moderieren würde, sonst hätte sie das Buch am Vorabend doch gelesen gehabt. Mein Gefühl sagte mir, dass sie das so geplant hatte. Aber gleichzeitig frage ich mich bis heute: Warum?
Sie wurden vielleicht auch zu einer Art Exempel.
Es war völlig irrsinnig: Es hatte weder mit mir noch mit Literatur zu tun. Es war einfach aufgrund des Konflikts in Gaza opportun, mich als Zionistin zu beschimpfen und auszuladen.
Welche langfristigen Konsequenzen hat der Vorfall für Sie?
Jemand vom Goethe-Institut in Pakistan sagte mitten im Chaos zu mir: «Wir hätten Ihren Background besser checken müssen.»
Mit anderen Worten: Hätte man geahnt, dass muslimische Kreise sich an Ihnen stören könnten, hätte man Sie gar nicht erst nach Pakistan eingeladen.
Ich frage mich, was diese Entwicklung für Autorinnen, Künstlerinnen und Wissenschafterinnen bedeutet. Vor allem, wenn sie jüdisch, israelisch und nicht antizionistisch sind. Ich fürchte, Diskussionen, in denen verschiedene Perspektiven aufeinanderknallen, wo man sich aber auch treffen kann, werden nicht mehr stattfinden. Darum halte ich Boykottkampagnen wie beispielsweise BDS für eine grosse Gefahr für die Meinungs- und Kunstfreiheit, für den freien Diskurs.
Aus Angst vor einem Shitstorm oder erschwerten Umständen versuchen viele Institutionen, Konfliktsituationen zu vermeiden. Universitäten etwa spüren den Druck, israelische Lehrende auszuschliessen.
Man sollte diesem Druck nicht nachgeben. Für keine Nation der Welt gibt es vergleichbare Boykottaufrufe. Generell finde ich es gefährlich, in einer Welt zu leben, in der nicht die Haltung, sondern die Herkunft darüber entscheidet, wo man mitmachen darf und wo man ausgeschlossen wird.
Fehlt uns der Mut zum Streit?
Vielleicht. Dabei bin ich immer fürs Streiten. Wenn man mit irgendetwas nicht einverstanden ist, sollte man widersprechen, die Leute konfrontieren. Es braucht doch diesen Raum für den Streit. Sonst bestätigt man sich nur noch gegenseitig in diesen kleinen Gruppen; man holt auch nur Leute rein, die das bereits Etablierte mit bestätigen.
Glauben Sie, dass es der Gesellschaft immer schwerer fällt, die Tatsache auszuhalten, dass zwei oder mehr unterschiedliche Ansichten eine Existenzberechtigung haben?
Das ist doch der Inbegriff der Demokratie: mehrere Ansichten zu ertragen. Nur Regime wie beispielsweise jene in Russland, der Türkei oder Iran verbieten diese Pluralität. Nun lassen wir das auch hier zu.
Wie meinen Sie das?
Ein Beispiel: Wegen eines Genozid-Mahnmals für die Armenier in Köln machten türkische Verbände Druck. Vierzig Vereine haben sich zusammengeschlossen, um dieses kleine Mahnmal zu verhindern. Jetzt ist es, glaube ich, weg. So weit reicht Erdogans Macht.
Ihr Vater ist in den 1980er Jahren nach Deutschland geflohen, hat aber lange gehofft, in die Heimat zurückzukehren. So beschreiben Sie das in Ihrem Buch. Was ist aus dieser Hoffnung geworden?
Mein Vater hoffte auf eine funktionierende Demokratie in Syrien und im Irak. Diese Hoffnung wuchs, als Saddam Hussein nicht mehr da war. Sie wuchs mit den Protesten gegen das Asad-Regime. Dann hat Asad Syrien in Grund und Boden bombardiert. Die Islamisten wurden mächtig. Mit dem Genozid von 2014 war die Hoffnung dann weg. Sie ist nicht zurückgekommen.
Haben Sie noch Hoffnung?
In Deutschland steigt die Zahl der Abschiebungen. In ihren alten Ländern ist aber auch kein Platz mehr für die Jesiden. In den Moscheen wird gegen sie gepredigt, die antijesidische Hetze bleibt stark. Im Irak und in Syrien wird über eine Amnestie für die Täter des Genozids an den Jesiden von 2014 diskutiert. In der Region gab es einst Jesiden, Drusen, Mandäer, Aramäer, Armenier, Zoroastrier, Shabak und viele andere Minderheiten. Die Islamisten haben die Gemeinschaften ausbluten lassen und verjagt. Die Welt hat versäumt, etwas dagegen zu tun. Jetzt ist es zu spät.
Ronya Othmann: Vierundsiebzig. Roman. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2024. 512 S., Fr. 36.90.