Nach zehn Jahren findet der grösste Zürcher Debütantenball wieder statt – an neuem Ort, im gleichen Kleid.
Vier Malstäbe stecken auf einem giftgrünen Turnhallenboden das Parkett ab. Zwischen Fussballtoren und Basketballkörben reihen sich 80 Jugendliche in zehn Linien ein, je vier Tanzpaare, akribisch ausgerichtet.
«Herren, bietet eure Hände an», sagt der Tanzlehrer in Turnschuhen. Die Tanzpaare schreiten nach links, sie wiegen sich im Reigen, sie walzen. Nur beim Traversieren stossen da und dort zwei Paare zusammen. Die Mienen sind beherrscht. Zuletzt knicksen die Damen, die Herren beugen sich in den Diener.
Die jungen Erwachsenen, 15 bis 29 Jahre alt, üben Schrittfolgen für ihren grossen Auftritt am Kaiser-Ball. Als Debütantinnen und Debütanten in adrettem Putz eröffnen sie den Ball am Samstag der Tradition gemäss.
An den Hofbällen Grossbritanniens wurden einst die Töchter der Aristokratie als Debütantinnen in die Gesellschaft eingeführt. Das Tanzen war nebensächlich. Der Adel stellte Glanz und Macht zur Schau, der Ballsaal präsentierte sich als Heiratsmarkt, Grafen umwarben Prinzessinnen. Bälle waren Inbegriff von Status und Raffinement. Aber 1958 befand selbst Königin Elisabeth II. die Vorstellung bei Hofe als nicht mehr zeitgemäss.
Was also bewegt die Zürcher Jugend dazu, zwei Jahrhunderte später festliches Zeremoniell und höfische Sitten des Viktorianischen Zeitalters zu reinszenieren?
Auf der Suche nach Mr. Darcy
Fanfaren, Annen-Polka, Blumenwalzer – die formellen Schrittmuster wollen nicht ganz zu den Jugendlichen passen, die für die Probe in Socken, breiten Jeanshosen oder bauchfreien Tops gekommen sind.
Isabel, Yola und Milena, 16 Jahre alt, sind wegen der Stimmung dabei – bis drei Uhr früh tanzen, die Bekanntschaft anderer Jugendlicher machen, sich amüsieren, konversieren. Sie hätten an ihrer Schule vorgeschlagen, einen Ball zu organisieren, aber die anderen Schüler wollten lieber eine Disco. «Der Kaiser-Ball ist etwas Einzigartiges», sagt Yola.
Was Yola etwas missfällt, ist die Kleidung: «Sie regt mich schon ein wenig auf, sie ist ziemlich sexistisch.» Aber sie wehrt sich gegen die Konvention: Sie hat sich mit ihrer Tanzpartnerin Milena angemeldet, diese wird einen Frack tragen. «Wir sind eben exzeptionell», sagt Yola.
Isabel hingegen schwärmt für Filme wie «Stolz und Vorurteil», basierend auf den Romanen von Jane Austen über die englische Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Austen erfand mit Mr. Darcy den romantischen Helden schlechthin. Vermögende Junggesellen werben in ihren Büchern um die ansehnlichsten Frauen, Heirat ist oberstes Ziel. Noch heute werden Austens Bücher neu verfilmt. Wieso ist diese Zeit, die mit Blick auf die heutige Emanzipation so fern erscheint, so faszinierend? Isabel sagt: «Ein Ball wirkt vielleicht etwas traditionell, trotzdem finde ich die Kleider und Tänze sehr elegant.»
Das Altbewährte mache auch für ihn den Reiz des Kaiser-Balls aus, sagt Rayan (17). Die Kleidung, der Smoking erhöben den Ball zu etwas Stilvollem und setzten den Tänzer einem gewissen Druck aus. «In einem Hoodie zu tanzen, wäre nicht dasselbe.» Über die Frage, wie es ihnen mit den Tanzschritten ergehe, lacht die Gruppe Kavaliere, die um Rayan steht: «Die Schritte sind nicht schwierig, wir konnten sie schon nach dem ersten Mal üben.»
Einmal zur Hautevolee gehören, zur vornehmen Gesellschaftsschicht, deren Etikette folgen, Sehen und Gesehenwerden. Auf die Frage, ob ihr das alles nicht etwas altmodisch vorkomme, sagt die 26-jährige Vanessa: «Der Kaiser-Ball ist gehoben, nicht alt.»
Vanessa tanzt seit fünfzehn Jahren und «debütiert» zum zweiten Mal, diesmal mit einem anderen Tanzpartner als vor zehn Jahren. «Wenn man gut und gern tanzt, macht die Massenformation eine super Falle.» Die Tänzerinnen und Tänzer sähen dann aus wie Pinguine. Denn drehten sie sich umeinander, entstehe ein schwarz-weisses Muster. Vanessa bringt ihr Tenue aus dem eigenen Kleiderschrank mit: «Ich freue mich, mein Hochzeitskleid für diesen Anlass nochmals anziehen zu können.»
War der Debütantenball bei Jane Austen Verkupplungsgelegenheit, sind hier viele der jungen Frauen und Bewerber schon vergeben. Wer sich allein angemeldet hat, findet sich neben einem etwa gleich grossen Tanzpartner wieder – der formvollendeten Formation zuliebe.
So festlich wie eine Massenhochzeit
In der Turnhalle in den Gefilden des Schulhauses Neumünster am Zürcher Hegibachplatz hofmeistert Marianne Kaiser. Hier und da beantwortet sie eine Frage, immer wieder lobt sie die Jugendlichen. Kaiser ist Tanzpädagogin, tourte drei Jahre um die Welt und machte den klassischen Paartanz in Zürich gesellschaftsfähig.
Der erste Kaiser-Ball fand 1968 statt. In den achtziger Jahren bildete Marianne Kaiser die Zürcher Debütantinnen und Debütanten des Opernballs in Wien aus. Sie brachte ihre Erfahrung aus der Wiener Ballkultur, wo über 400 Bälle jährlich stattfinden, zurück nach Zürich.
1988 übernahm Kaiser die gleichnamige Tanzschule von ihrem Ex-Ehemann Walter Kaiser. Das Zepter über Tanzschule und Ballorganisation hat sie 2022 weitergegeben, bei den Proben ist ihre Expertise aber weiterhin gefragt.
Mit dem Prunk des Wiener Opernballs, der eine Woche später stattfindet, kann der Zürcher Ableger wohl nicht ganz mithalten. Die Wiener Jungdamen und Jungherren müssen sich bewerben und ihre Linkswalzerkenntnisse beim Vortanzen beweisen. Die Dekoration in der Wiener Staatsoper ist üppig und pompös, mit viel Samt, einer eigens designten Tapete, und Swarovski gestaltet die Tiara der Debütantinnen. Im Fernsehen sieht man Herrschaften aus Politik, Wirtschaft und Kultur über den Teppich schreiten. Eine Eintrittskarte gibt es ab 385 Euro.
Der Kaiser-Ball ist demokratischer. Jede und jeder könne den Ball eröffnen, egal, aus welcher Gesellschaftsschicht, sagt Kaiser. Über Tanzerfahrung verfüge nicht einmal die Hälfte der Jugendlichen. Für die Debütantinnen und Debütanten sind die Einstudierung an vier Sonntagen und der Ball gratis. Die anderen Gäste zahlen einen Eintrittspreis; die Flanierkarte, die zum Aufenthalt und Tanz in den drei Sälen berechtigt, ist mit 70 Franken aber vergleichsweise günstig.
Nur für die Kleider müssen die Debütantinnen und Debütanten selbst aufkommen. Und da lässt man sich nicht lumpen: Die Männer tragen am Ballabend Smoking, Fliege, Lackschuhe; die Frauen eine Robe, ein Diadem im hochgesteckten Haar. 80 identisch gekleidete Damen und Herren, er in Schwarz, sie in Weiss.
Auch der Ball wandelt sich
Auch Kaiser ist klar, dass das heutige Debütieren wenig zu tun hat mit den Nobelbällen der Adelsgesellschaft: Das Tanzen stehe im Vordergrund. Es sei die edelste und schönste Form der Eröffnung eines Anlasses, eine Ansprache etwa könne nicht die gleiche Stimmung vermitteln.
Kaisers Augen ruhen prüfend, aber zufrieden auf dem Geschehen. Die Jugendlichen wirkten konzentrierter als in anderen Jahren, sie nähmen es sehr ernst: keine Handys, keine Blödeleien, keine Kaugummis, sagt Kaiser, für die Paartanz und gute Umgangsformen zusammengehören.
Kaiser macht die Entschlossenheit der Jugendlichen an einem sich wandelnden Bewusstsein fest: «Die Jugendlichen merken, dass die digitale Welt nicht befriedigend ist, dass es schöner ist, sich direkt in die Augen zu schauen statt via Bildschirm.» Bei einem Ball gehe es um Gemeinschaft, man nehme Rücksicht, schaue, dass jeder auf der Tanzfläche Platz finde. Durch den Paartanz komme man einander wieder näher, anders als in der digitalen Welt, die die Menschen zunehmend auseinandertreibe.
Aber auch der Paartanz wandle sich, sagt Kaiser. So gebe es eine Lockerung der Rollenverteilung. In Tanzkursen könne man heute beide Schrittfolgen lernen, sich abzuwechseln beim Führen und Folgen stärke die Teamarbeit.
Dass sich für die Balleröffnung 80 junge Leute angemeldet haben, hat Kaiser überrascht. Der Kaiser-Ball fand zuletzt vor zehn Jahren statt, er pausierte wegen des Umbaus des Kongresshauses und später wegen der Corona-Pandemie. Nach dem langen Unterbruch habe man nicht gewusst, ob die jungen Leute sich noch für den Ball interessierten.
Deshalb trägt nun ein neuer Hof den Festakt aus: der Klub X-Tra. «Für die Atmosphäre wäre es schrecklich gewesen, wenn der Raum leer gewirkt hätte», sagt Kaiser. Man habe sich mindestens 24 Debütantenpaare gewünscht, daraus wurden 40.
Wo also sonst Bässe ertönen, zählt man am Samstag den ¾-Takt. Wo gewöhnlich Rollschuhe über das Parkett brettern, walzern Tanzschuhe. An diesem Wochenende macht die Zürcher Jugend dem Palais X-Tra ihre Aufwartung. Sie erwartet, was Jane Austen die Glückseligkeit der schnellen Bewegung nannte. Getanzt wird am Kaiser-Ball aber nicht nur zu Johann Strauss, sondern ebenso zu Elvis, Swing und neuen südamerikanischen Rhythmen.