Wie fühlen, denken und handeln in Zeiten der ökologischen Krise? Nikolaj Schultz sucht nach einer neuen Sprache für das existenzielle Unbehagen im Klimawandel. Eine Begegnung in Paris.
Wenn Nikolaj Schultz Zeitung liest, schwindelt ihm. Schlagzeilen wie «Geht die Camargue unter?» dröhnen schon bei der ersten Tasse Kaffee in seinem Kopf. Keine andere Region Frankreichs ist so stark vom Klimawandel betroffen, bis zum Jahr 2100 soll das Meer dort um 50 Zentimeter ansteigen. Manche macht das wütend, ratlos oder traurig. Schultz raubt es den Schlaf.
In einer Zeit, in der vor allem politisch und wissenschaftlich über den Klimawandel gesprochen wird, widmet sich Nikolaj Schultz dem Gefühl, den grossen existenziellen Fragen. Ihn interessiert, was es heute bedeutet, Mensch zu sein. Wie die globale Erwärmung uns verändert, an unseren Werten und Vorstellungen rüttelt. Schultz sucht eine Sprache für das existenzielle Unbehagen in der ökologischen Krise.
Das Unbehagen im Anthropozän
Nikolaj Schultz ist Däne, 33, und lebt in Paris. Er gilt als Lichtgestalt der Soziologie. Seit er 2022 gemeinsam mit Bruno Latour die theoretische Schrift «Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum» publizierte, macht sein Name die Runde. Noch im selben Jahr veröffentlichte Schultz mit «Mal de terre» sein erstes eigenes Buch, das jetzt in deutscher Sprache erschienen ist. «Landkrank» ist mit 122 Seiten ein schmaler Band, eine Mischung aus Essay und Literatur, gefüttert mit theoretischen Gedanken zu Soziologie und Philosophie.
Der Ich-Erzähler, gleichzeitig Alter Ego von Schultz, liegt verschwitzt und schlaflos in seinem Pariser Bett. Es ist 45 Grad, eine Hitzewelle macht das Leben in der Stadt unerträglich. Aber nicht nur sein Körper leidet, die Hitze rüttelt an seiner ganzen Existenz, an seiner Orientierung in der Welt. Denn alles, was er tut, um sich zu kühlen, spielt der Hitze nur weiter in die Hände. Es ist ein Teufelskreis. «Wohin ich den Blick oder meine Phantasie auch wende, überall erkenne ich die verstörenden Spuren meines Seins uns Tuns», schreibt Schultz.
Um der Hitze und seinem Unbehagen zu entfliehen, reist der Ich-Erzähler nach Porquerolles, einer Insel an der Côte d’Azur. Aber auch dort muss er feststellen, dass der Strand verschwindet, dass die Inselbewohner an Wasserknappheit leiden, dass er Teil des Problems ist. Er ist landkrank.
Schultz trifft einen Nerv. Er schreibt zugänglich, zugleich intellektuell und scheut sich nicht vor Emotionalität. «Die Zeit» kündigte ihn letztes Jahr als «Nachwuchsstar der Soziologie» an, auf dem Buchrücken tummelt sich das Lob der Grossen und Umstrittenen. Neben Peter Sloterdijk und Luisa Neubauer wird Slavoj Žižek zitiert: «Wenn uns ein Buch zum dringend notwendigen ökologischen Engagement mobilisieren kann, dann dieses.» Sloterdijk schreibt, man würde Schultz einst ihn einen «Geopathen» nennen, jemanden, der aus Mitgefühl am Zustand der Erde erkrankt.
Den Menschen nicht aus den Augen verlieren
Nikolaj Schultz wartet auf der Place de la République. Er sieht von seinem Handy auf, sagt Hallo, nur noch diesen einen Satz muss er zu Ende tippen. Dann führt er in zügigem Schritt durch sein Quartier. Während wir durch Café-Tischchen, Mopeds, Fahrräder und Mülleimer manövrieren, legt er los. Es sind keine zwei Minuten vergangen, und schon spricht Schultz über Kierkegaard, Freiheit, das Ich und seine Schlaflosigkeit.
Erst mal hinsetzen, einen Kaffee. Er zieht den Tabak aus der Manteltasche, dreht, raucht. Die letzte Zeit sei aufregend gewesen, aber auch hart. 30 Vorträge im Jahr, unzählige Interviews. Dann der Tod von Bruno Latour, seinem Mentor, der 2022 an einer Krebserkrankung starb. Er nennt ihn «Bruno», Schultz war sein engster Mitarbeiter. Er spricht von Latours Grosszügigkeit, seiner Lust, sich von anderen Sichtweisen herausfordern zu lassen, nicht dogmatisch zu werden. Man merkt, wie wichtig er für Schultz war, als Mensch und als Denker.
Kurz vor seinem Tod veranstaltete der schwer kranke Latour eine Party in seiner Wohnung, um die Veröffentlichung von Nikolajs Buch zu feiern. Schultz sagt: «Sogar Bruno mochte mein Buch.» Sogar? Während Latour mit allen Mitteln versuchte, die Geisteswissenschaften von ihrer Obsession mit dem Menschen wegzulocken, ist Schultz überzeugt, dass sie ohne das Ich nicht auskommen.
Spaltungen, Splitter, Fragmente
Nach dem ersten Kaffee kommt er erst richtig in Fahrt. Mit leiser, aber energischer Stimme spricht Schultz von der Klimakrise, die längst nicht mehr nur politisch und wissenschaftlich, sondern auch existenziell und psychologisch geworden sei. Ab und an unterbricht Schultz sich selbst. Zwischen zwei Halbsätzen hält er inne und macht ein Knackgeräusch. Dazu eine Handbewegung, als würde er seinen eigenen Satz wie einen Ast in zwei Teile brechen.
Eine Geste, die unterstreicht, dass die Welt in Schultz’ Kopf im Umbruch ist. Er sagt: «Wenn man heute auf einer Insel ankommt, dem Ort, der früher der Inbegriff von Freiheit, Träumerei und Zuflucht war . . .»
Pause. Knacken.
«. . . muss man feststellen, dass sie als Erstes unter den eigenen Füssen verschwinden wird.»
Er sagt, die modernen Freiheitskonzepte seien unbrauchbar geworden, wir könnten unsere Freiheit nicht länger unabhängig von der Erde denken. «Landkrank» sei ein Buch über «die Splitter, die Fragmente, die wir alle spüren, weil die Welt sich als anders herausgestellt hat, als wir vermuteten.»
Was er damit meint? «Als ich nach dem Schulabschluss durch einen Flughafen ging, sah ich mich als Entdecker, als Weltbürger, als progressiv», sagt Schultz. Früher fühlte man sich weltoffen, heute ignorant, vielleicht sogar schuldig. Er sagt: «Wir wissen, dass unsere Art zu reisen, unsere Art, in der Welt zu sein, Spuren hinterlässt. Das war früher nicht Teil unseres Denkhorizonts.»
Zwischen Fatalismus und Apathie
Natürlich geht das nicht allen Menschen so. «Landkrankheit» ist ein Gefühl, das niemand konstant spürt, es kommt in Schüben. Wenn es in Griechenland brennt, zum Beispiel, und man dort Ferien machen wollte. Manche fühlen auch gar nichts. Vor kurzem habe ihn eine Journalistin interviewt, die das verschobene Lebensgefühl, die Schuldgefühle und die Verunsicherung einfach nicht habe nachvollziehen können. Ihre Ehrlichkeit freut ihn. Er sieht es nicht als seine Aufgabe zu moralisieren. Schultz ist Soziologe und will beschreiben, die Angst, aber auch die Apathie. Den Streit darüber, ob politische Lösungen oder Eigenverantwortung aus der Krise führen, versteht er nicht. Diese Trennung komme aus einer alten soziologischen Tradition: Entweder das Individuum oder das Kollektiv. Schultz sagt: «Sie können leicht Hand in Hand gehen.»
Grosse Worte fallen über dem lila Bistrot-Tischchen, an dem das Pariser Treiben vorbeizieht. Schultz will einen neuen Existenzialismus begründen, das Ich neu denken, die Freiheit, die Verantwortung. Weil diese Ideen die Menschen berühren. Gerade wenn man meint, er könnte die Bodenhaftung verlieren, lacht er über sich selbst und sagt: «Schreiben Sie das bloss nicht auf.»
Nikolaj Schultz hat eine Schwäche für Sprachbilder und kleine Anekdoten, die ihn manchmal älter klingen lassen, als er ist: «Wie jede Näherin weiss», sagt er einmal wie beiläufig, «ist es wichtig, herauszufinden, wie ein Kleidungsstück gerissen ist, wenn sie es flicken will.» Er selbst sieht sich in gewisser Weise auch als Reparateur, als Schreibender, der die Sollbruchstellen der Gesellschaft aufspürt.
Den Existenzialismus nach aussen kehren
Auf seinem Schreibtisch steht ein Bild von Søren Kierkegaard, dem Urvater des Existenzialismus, sagt Schultz. Kierkegaard sei ein ängstlicher Mann gewesen, wie er selbst auch. In all seinen Büchern gebe es nur eine Stelle, in der er beschreibe, dass er seine Angst überwinden konnte: «Kierkegaard steht am Meer, schaut auf die Wellen, hört die Vögel und ist in Frieden. Dann ging er zurück in sein Arbeitszimmer, zurück in seine Subjektivität, zurück in seine Angst».
Schultz sagt: «Meine Idee ist, dass wir nicht mehr nur in uns selbst suchen können, sondern dass der Existenzialismus nach aussen gekehrt werden muss. Wir müssen die Entitäten mit einbeziehen, die es uns ermöglichen zu existieren.» Die Frage nach dem Inneren fliesse heute mit dem Äusseren zusammen. Das Problem mit dem alten Existenzialismus sei, dass er seine Ideen auf der scharfen Trennung von Natur und Kultur gestützt habe. Dass er völlig anthropozentrisch sei.
Von Aarhus nach Paris
Wie Kierkegaard, wurde Nikolaj Schultz in Dänemark geboren. Er ging in Aarhus zur Schule. Kurz vor dem Abschluss sagte ihm ein Lehrer: «Nikolaj, das Einzige, zu dem du taugst, ist Soziologie.» Eigentlich wollte er Psychologie studieren, aber seine Noten waren zu schlecht. Also studierte er Soziologie in Aalborg, später wechselte er nach Kopenhagen. Schultz sagt, es habe ihn sofort gepackt.
Er las Latour und ging nach Paris, wo Latour lehrte. Die beiden verstanden sich gut, diskutierten, skizzierten Ideen und begannen gemeinsam zu schreiben. Nachdem ihr Buch zur ökologischen Klasse erschienen war, meldete sich Luisa Neubauer.
Schultz ist stolz, dass Neubauer seine Schriften für brauchbar hält. Für die deutsche Ausgabe von «Landkrank» hat sie das Vorwort geschrieben. Ob er sich selbst als Aktivisten sieht? Nein, nein, winkt er ab. Als Soziologe sei seine Aufgabe das Beschreiben. «Aber auch Schreiben ist eine Form von Aktivismus», schiebt er nach. Das passt zu Schultz, der sich ungern entscheidet, dessen Buch in kein Genre passt und der, wie er sagt, seine ganze Arbeit der Aufhebung von Trennungen widmet.
Eine neue Sprache für den Klimawandel
Wie der Ich-Erzähler in «Landkrank» reiste Schultz auf die Porquerolles. Eigentlich wollte er Ferien machen, aber die Fragen drängten sich ihm auf. Das Buch habe er zügig geschrieben, sagt er, und das merkt man. Es liest sich frisch. Schultz sagt: «Bruno hat mir beigebracht, was schon Nietzsche wusste: Grosse Probleme sind wie kalte Duschen. Man muss schnell rein und wieder raus.» Wieder klingelt kurz der Übermut. Schulz lacht. Das dürfe man nicht falsch verstehen, natürlich vergleiche er sich nicht mit diesen Giganten.
Schulz begeistert das Grosse. Die grossen Denker, die grossen Worte. Daneben hat er sich das Zarte bewahrt. Er spricht unverklemmt über das Verletzliche, seine Schlaflosigkeit, die Unruhe. Das Anthropozän sei nicht nur ein ökonomisches, wissenschaftliches oder politisches Problem. Es ginge auch um Kunst, Ästhetik, Sensibilität, Gefühl. Auch deswegen hat er eine andere Sprache gefunden. Und wieder nimmt er vorweg, was man ihm skeptisch erwidern wollte: Nein, es gehe nicht darum, die Kunst zu ideologisieren. Sondern darum, zu tun, was die Künste schon immer getan haben: etwas empfindbar machen, was wir vorher nicht empfunden haben.
Hier, an dem Tischchen, das sich nach und nach mit Kaffeetassen, Zigarettenpapier und aufgeschlagenen Notizbüchern gefüllt hat, hat man das Gefühl, einem entschlossenen Denker gegenüberzusitzen. Einem Mutmacher. «Wir leben in schrecklichen Zeiten, aber wenigstens haben wir was zu tun», sagt er, und seine Augen blitzen unter dem beigen Basecap hervor.
Nikolaj Schultz: Landkrank. Suhrkamp 2024. 122 S., Fr. 23.90.