Jeder russischen Bürger weiss, dass Krieg herrscht, nur darf der Feldzug gegen die Ukraine nicht als solcher bezeichnet werden. Stolz hat jeder zu sein und dem Heldentum der Vergangenheit nachzueifern. Die Erfahrung des Kampfes als Katastrophe wird ausgeblendet.
«Auch wir sind heute alle Helden», sagte neulich der Gouverneur von Sankt Petersburg, Alexander Beglow, bei einer feierlichen Versammlung, «weil wir unseren Kriegern helfen, die an der militärischen Spezialoperation teilnehmen. Denn Russland kämpft nicht gegen die Ukrainer, Amerikaner, Engländer oder Franzosen; nein, das nicht. Heute kämpft Russland gegen das Böse in der Welt».
Diese Worte stellen ein keineswegs seltenes Beispiel für besonders auffälliges Pathos im heutigen Russland dar, im Gegenteil: vor dem Hintergrund zahlloser anderer Reden und Aussagen sind sie geradezu normal. Ob in sozialen Netzwerken oder auf den Strassen: Die Vorstellung, dass die russische Staatsgrenze «Gut» und «Böse» trennt (wobei «das Gute» natürlich in Russland west), ist mittlerweile längst Allgemeinplatz. Und so wurden am 9. Mai auch die Feierlichkeiten zum 79. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion im «Grossen Vaterländischen Krieg» von 1945 zum Anlass genommen, den damaligen wie aktuellen Krieg gegen die Ukraine so pathetisch wie nur möglich zu verherrlichen.
Sieg um jeden Preis
Der Aussenminister Sergei Lawrow formulierte es anlässlich des Siegestages unmissverständlich: «Die Nachkommen von Napoleon und Hitler wollen gemeinsam mit den Angelsachsen wieder einmal eine strategische Niederlage für unser Land herbeiführen, es zerstören, es ihren streng eigennützigen hegemonialen Interessen unterwerfen.»
Daher bezeichnete auch Präsident Putin den Siegestag als «heilig», weil er daran erinnere, wie sehr Russland in Gestalt des Guten für das Überleben kämpfe – damals wie heute. Und auch der jetzige Kampfeinsatz sei, wie es in einem sowjetischen Lied von 1941 hiess, ein heiliger Krieg. Die Sakralisierung des Krieges führt dazu, dass er dem Heldentum an sich gleichgesetzt wird. Das ganze Sowjetvolk sei ein Held, weil es den Krieg gegen Hitler gewonnen habe, so Putin. Und meint damit auch: Jeder, der heute an der Eroberung und Zerstörung der Ukraine (offiziell einer «militärischen Spezialoperation») beteiligt ist, sei ebenfalls ein Held.
Davon lässt sich leicht das einzig richtige russische «patriotische Denken» ableiten: Es ist ein Gefühl von Stolz und die selbstverständliche Bereitschaft, dem Heldentum der Vergangenheit nachzueifern. Die Erfahrung des Krieges als Katastrophe, als Chaos und Elend wird systematisch verdrängt und ausgeblendet. Stattdessen gilt der militärische Sieg um jeden Preis als Ziel, nach dem sich alle zu richten haben. Er ist die wichtigste Orientierung im politischen Denken.
Schon als Kind, das ich in der späten Sowjetunion war, habe ich einen ähnlichen Appell verinnerlicht: Im Kindergarten und in der Volksschule wurden wir unablässig angehalten, die Kriegshelden zu verehren. Ich erinnere mich noch sehr gut an die eigenartige Mischung aus ideologisch geformter Gesinnung, einem nüchternen Konformismus und subversiver Ironie, die die sowjetische Propaganda vom Heldentum hervorrief.
Das heutige Russland weist nur wenige Ähnlichkeiten mit der Sowjetunion auf. Die zynischen mafiaartigen Clans an der Staatsspitze, die grenzenlose Geldgier der Bürokraten, die eklatanten sozialen Ungleichheiten in einer boomenden Konsumgesellschaft, eine riesige mediale Unterhaltungsindustrie und eine geschickt mit der neuesten Technik hantierende Jugend, die den neuesten globalen Trends in Kosmetik, Kleidung und Musik nachjagt – nichts davon erinnert an die Sowjetunion.
Die Parade als Teil des Krieges
Umso befremdlicher wirkt die eigenartige militaristische Verzahnung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen bei der diesjährigen Parade auf dem Roten Platz. Neben beispiellosen Sicherheitsvorkehrungen in Moskau fiel auf, dass die Vorführung von Militärtechnik drastisch verringert wurde. Unabhängige Militärexperten gingen darin einig, dass ein Land, das Krieg führt, sich eine massive Präsenz der Waffensysteme bei der Parade nicht mehr leisten kann.
Diese eigenartige Absenz von Militärtechnik vermittelte zugleich – gewollt oder ungewollt – eine Botschaft: Die Parade soll auch und gerade als Teil des laufenden Krieges gegen die Ukraine verstanden werden. Sie ist schon längst keine reine Gedenkveranstaltung mehr, sondern Teil der Realität. Das seinerzeitige Heldentum des Sowjetvolkes wird jetzt vom russischen Volke fortgeschrieben.
Und so marschierten zum ersten Mal wieder Soldaten von der Spitze über den Roten Platz, stolz und siegesbewusst. In den russischen Medien wurden sie umjubelt, aber vorsichtig als «Teilnehmer an der militärischen Spezialoperation» bezeichnet, denn der Begriff «Krieg» in Bezug auf den seit über zwei Jahren dauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ja nach wie vor tabu. Die Sakralisierung der Kriegsgewalt (und des Kampfes gegen das «Böse der Welt») soll so selbstverständlich wie möglich wirken; und der Pathos-Begriff «Krieg» scheint dabei paradoxerweise zu stören.
Freilich legt die demonstrative Verherrlichung von Kriegsgewalt auch ein spezifisches historisches Denken nahe. In der Geschichte wirken demnach nur drei Kräfte: das eigene Heldentum, die Feindseligkeit Anderer und die Tragödie des Schicksals. Gemäss diesem Geschichtsbegriff wird jeder russische Eroberungskrieg als Präventivkrieg geführt. Eine solche Deutung der Geschichte ist zwar infantil, doch genau diese historische Bewusstlosigkeit ist eines der Grundelemente des postsowjetischen Russlands unter Putin. Ihre Förderung wurde in den letzten Jahren mit besonderer Intensität betrieben.
Gleich am Tag nach seiner Inauguration unterschrieb Putin neue «Grundlagen der Staatspolitik Russlands im Bereich der historischen Aufklärung». Diese soll einer «harmonischen Entwicklung der Persönlichkeit und des Staates» dienen und die historische Kompetenz sowie patriotische Gesinnung der Bevölkerung fördern. Es gelte, einer «destruktiven ideologischen Beeinflussung [durch den ‹Westen›] Widerstand zu leisten» und auf Russland, seine «Helden» und seinen «Beitrag zur Entwicklung der Weltzivilisation» stolz zu sein.
Grigori Pomeranz zum Beispiel
Wo partout Heroik geboten ist, dürfte sich die Liste der in Russland verbotenen, unerwünschten, totgeschwiegenen Schriftsteller weiter verlängern. Zu sowjetischer Zeit waren jedenfalls Untergrund-Schriftsteller, aber auch manche legal publizierende Autoren durchaus geneigt, Krieg nicht zu verherrlichen, sondern den Aufruf «Nie wieder!» ernst zu nehmen. Was soll daher nun aus den Romanen von Wiktor Nekrassow, Wasili Grossman oder Wasyl Bykow, den Gedichten und der Publizistik von Bulat Okudschawa oder den biografischen Notizen des Philosophen Grigori Pomeranz werden?
Grigori Pomeranz (1918–2013) zum Beispiel meldete sich 1941 als Freiwilliger zur Roten Armee und marschierte 1945 als junger Leutnant bis nach Deutschland. Der sowjetische Siegeszug durch die ostdeutschen Ostgebiete liess ihn später immer wieder von einem bösen und grausamen Rausch sprechen. Er verwies in seinen als «Notizen eines hässlichen Entleins» auch auf Deutsch vorliegenden Erinnerungen auf zahlreiche Verbrechen der Roten Armee an der eigenen sowie – vor allem – an der fremden Zivilbevölkerung.
Es stimmte Pomeranz nachdenklich, wie ein verbrecherisches Regime (das von Stalin) einen militärischen Sieg über ein anderes (jenes von Hitler) zu feiern vermochte. Noch 1945 wurde ihm bewusst, dass der moralische Preis für diesen Siegesrausch sehr hoch werde und die Sowjetgesellschaft an der «Bürde des Sieges» schwer zu kranken habe.
1949 kam Pomeranz für fünf Jahre in den Gulag, überlebte aber. Seine Schriften wurden offiziell überwiegend totgeschwiegen und erst während der Perestroika (also nach 1985) veröffentlicht. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde Pomeranz zu einer der wichtigsten philosophischen Stimmen und moralischen Autoritäten Russlands. Als religiöser, stark humanistisch geprägter und antiautoritärer Denker bewahrte er sich einen klaren, ja nüchternen Blick. Er verurteilte jede Art von Mythologisierung von Politik sowie die Beschwörung beziehungsweise Verharmlosung von totalitären Fiktionen. Die unter Putin immer stärker spürbare Verklärung der Herrschaft Stalins – und damit auch des «Grossen Vaterländischen Krieges» – kann nach Pomeranz nur verheerende Folgen zeitigen.
Und so steht denn alles Russische im Zeichen des Krieges. Die Vergangenheit wird militaristisch verklärt und mythologisiert, und die Zukunft eben gerade militaristisch gestaltet. Im Lichte der jüngsten Personalrochaden und Neubesetzungen im Kreml-Apparat wird einmal mehr offensichtlich, dass man sich auf einen dauerhaften Krieg einstellt, denn die langfristigen Eroberungspläne reichen klar über die Ukraine hinaus.
Andrei Belousow, der neue, esoterisch geprägte Verteidigungsminister, gab unmissverständlich zu verstehen, dass es sein Ziel sei, eine postulierte «Urwüchsigkeit Russlands» zu verteidigen. Es versteht sich von selbst, dass dazu die Unterwerfung der Nachbarländer gehört. Kein Wunder, erklären die erwähnten «Grundlagen der Staatspolitik Russlands im Bereich der historischen Aufklärung» Russland zur eigenständigen «Staatszivilisation» und die Festigung einer mystischen «Russischen Welt» in ganz Eurasien zu den Zielen der «historischen Aufklärung».
Anna Schor-Tschudnowskaja ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Psychologie der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Forschungsschwerpunkte: gesellschaftlicher Wandel und politische Kultur im postsowjetischen Russland.