Immer mehr junge Menschen machen sich die Anliegen der Palästinenser zu eigen. Darin zeigt sich drastisch das Dilemma der Israeli.
Es gibt militärische Siege, die politische Niederlagen sind. Der zwölftägige Minikrieg, den Trump im Juni in Iran aus guten Gründen nicht bis zum Ende zu führen wagte, verhalf einem politischen Monster im Westen zur Auferstehung. Seither nimmt die Gazaisierung des politischen Lebens immer groteskere Formen an. Gab es nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des blutigen Pogroms der Hamas-Terroristen im Süden Israels, keine Demonstration mehr, auf der nicht die palästinensische Flagge gezeigt wurde, so ist das Emblem nun erst recht allgegenwärtig. Es ist zum Symbol einer Generation geworden, der kein Anlass zu marginal ist, um gegen angebliche Massenverbrechen zu demonstrieren.
Anfang Juli wurde das palästinensische Emblem bei einem gewaltsamen Protest gegen den Bau einer Autobahn in Südfrankreich gezeigt. Selbst an der Tour de France ist es zu Zwischenfällen mit Palästinenser-Sympathisanten gekommen. Und am Londoner Royal Opera House wurde jüngst gar beim Schlussapplaus zur Aufführung der Oper «Il trovatore» von einem Statisten die palästinensische Flagge entrollt.
Gemäss einer neuen Umfrage wählen in Frankreich immer mehr junge Frauen links. Sie zeigen sich überdies sehr empfänglich für das Leid der Menschen in Gaza. Jean-Luc Mélenchon, Gründer und Vorsitzender der Partei La France insoumise, forderte die Frauen Ende Juni in Paris vor einer begeisterten Menge auf, sich ein Beispiel an Rima Hassan zu nehmen. Sie ist Mitglied des Europäischen Parlaments und eine glühende Unterstützerin der von ihr als Widerstandsbewegung bezeichneten Hamas. An der Seite von Greta Thunberg befand sie sich im Juni an Bord eines Segelschiffs der Freedom Flotilla Coalition, das mit dem Ziel in See gestochen ist, die Blockade von Gaza zu durchbrechen. Ausgerechnet sie wird von der Linken als Vorbild für politisches Verhalten hingestellt.
Israelische Armee tappt in die Falle
In den fast zwei Jahren des blutigen Krieges hat Palästina mehr Unterstützer hinter sich geschart als viele andere politische Anliegen seit Jahrzehnten. Warum sieht man in London, Rom oder Paris, an den amerikanischen Universitäten junge Menschen, die den jüdischen Staat verhöhnen, ohne ein Wort über die Geiseln oder die tödliche Ideologie der Hamas zu verlieren?
Zwei Jahre lang wurde Gaza systematisch angegriffen und in ein Trümmerfeld verwandelt, was die Öffentlichkeit empörte. Militärisch ausgeblutet, politisch diskreditiert, scheint die Hamas bei grossen Teilen der Jugend beliebter denn je zu sein. Die Falle, die der israelischen Armee gestellt wurde, hat den gewünschten Effekt gezeigt.
Netanyahu behauptet derweil nicht ohne Zynismus, dass die IDF die moralischste Armee der Welt seien und die zivilisierte Welt verteidigten. Aber er scheint Nietzsches Warnung vergessen zu haben: «Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.»
Denn inzwischen wird die schändlichste Anklage gegen Israel erhoben: die des Völkermords. Israel wird praktisch seit seiner Gründung dieses Verbrechens beschuldigt, doch in den letzten zwei Jahren scheint der Vorwurf von immer mehr Ländern und Institutionen übernommen worden zu sein.
Den antisemitischen Kritikern des jüdischen Staates geht es vor allem darum, Israel zu nazifizieren und die Nachkommen der Opfer des Holocaust zu Tätern zu erklären. Man greift das Vorbild der Nazis auf, um es mit einiger Perversität gegen die Juden zu wenden. Das verfolgte Volk wurde ausgewechselt, der Ausgestossene ist nun der Palästinenser, der den KZ-Häftlingen gleichgestellt wird.
Gaza beeinflusst Wahlen in New York
Die Konfrontation im Nahen Osten, die jeden Tag live in die ganze Welt übertragen wird, hat unerwartete politische Folgen. Sie reichen bis nach New York. Dort hat sich mit Zohran Mamdani jüngst ein dezidierter Kritiker Israels in den demokratischen Vorwahlen für das Bürgermeisteramt deutlich gegen den Ex-Gouverneur Andrew Cuomo durchgesetzt.
Mamdani ist indischer Abstammung und muslimischen Glaubens. Er wurde in Uganda geboren und wuchs in Südafrika auf, ehe die Familie nach New York kam. Sein Vater gehört zu den einflussreichsten Theoretikern des Postkolonialismus. Mamdani ist ein junger, charismatischer Kandidat, der sich für die Ärmsten und für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Er wurde von Schwergewichten der Demokratischen Partei wie Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez und Chuck Schumer, dem Führer der demokratischen Minderheit im Senat, in der Vorwahl unterstützt.
Zohran Mamdani vertritt entschieden israelkritische Positionen. Er bezeichnet Netanyahu als Völkermörder, relativiert den 7. Oktober und befürwortet eine «Globalisierung der Intifada». Immerhin hat er sich Mitte Juli nach monatelangem Lavieren bei einem Auftritt vor New Yorker Investoren von dem Aufruf distanziert.
Mamdani hat gute Aussichten, Bürgermeister der grössten jüdischen Stadt der Welt zu werden. Damit hat sich die Pro-Gaza- und Anti-Israel-Rhetorik in einem der Zentren des politischen und kulturellen Lebens der USA etabliert. Die palästinensische Sache wird mit der Sache der Afroamerikaner und der Indigenen vermischt: Israel wird mit weissen Kolonisatoren gleichgesetzt. Die Befreiung Palästinas zu fordern, heisst darum zunächst, die amerikanische Gesellschaft und das Böse anzuklagen, das sie vergiftet.
Houellebecqs prophetischer Roman
Zwei Folgen sind im Zuge des Gaza-Kriegs bereits weltweit spürbar: zum einen die massive Ausbreitung des Antisemitismus. Gerade in Europa scheint er in einigen Ländern sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite wieder an seine alten kriminellen Neigungen anknüpfen zu wollen. Viele sagen sogar voraus, dass die Juden in Frankreich und Belgien in naher Zukunft verschwinden könnten, sei es, dass sie auswandern, sei es, dass sie aussterben.
Zum anderen kann man eine zunehmende Infiltration politischer Parteien und Institutionen durch Sympathisanten der Muslimbruderschaft beobachten. Mit dem Ergebnis, dass den Frauen ihre Rechte entzogen und die Gesetze der Scharia parallel zu den staatlichen Strukturen durchgesetzt werden sollen. Es ist genau das Szenario, das Michel Houellebecq 2015 in seinem Roman «Unterwerfung» vorweggenommen hatte.
Mit dem einzigen Unterschied allerdings, dass nicht ein muslimischer französischer Politiker in das Amt des Staatspräsidenten aufsteigt. Stattdessen hat ein junger, dynamischer Amerikaner, der den salafistischen Aufstand in die ganze Welt tragen will, beste Aussichten, Bürgermeister von New York zu werden. Es ist ungewiss, ob die palästinensische Sache dadurch etwas gewinnen wird. Fest steht einzig, dass uns Gaza noch lange beschäftigen wird.
Pascal Bruckner ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Paris. – Übersetzt aus dem Französischen.