Intellektuelle um Donald Trump berufen sich oft auf einen in Europa fast vergessenen Denker: Leo Strauss. Der Philosophiehistoriker Heinrich Meier hat eine Einführung in sein Werk geschrieben.
Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt, den die Regierung Trump und seine Berater aus dem Silicon Valley teilen, dann ist es ein umfassendes Unbehagen an und in der Gegenwart: Politik und Wirtschaft, aber auch Kultur und Gesellschaft sind in ihren Augen in einem desolaten Zustand und müssen radikal erneuert werden. Die langwierigen Verfahren in modernen Demokratien, die ökonomische Übervorteilung der USA, die linke Dominanz in der Kulturindustrie und die dekadente Wokeness-Bewegung – dies alles erregt die Gemüter der Regierungsmitglieder und beflügelt die revolutionären Ideen der Tech-Unternehmer.
So sorgt sich der Paypal-Gründer Peter Thiel, der den Wahlkampf von J. D. Vance finanziell unterstützte, um die Wettbewerbsfähigkeit des Westens. Die Mühlen des Verwaltungsstaats mahlten so langsam, dass Innovationen durch Überreglementierung und Bürokratisierung im Keim erstickt würden. Da zwischen Demokratie und Freiheit ein Widerspruch bestehe, sei Disruption à la Trump notwendig. Mit seiner Kritik ist der Deutsch-Amerikaner nicht allein: Ähnlich denken Michael Anton und andere Repräsentanten konservativer Think-Tanks wie des Claremont Institute in Kalifornien. Dabei berufen sich die «West Coast Straussians» auf einen in Europa fast vergessenen Denker.
Nach dem Ursprung suchen
Der 1899 im hessischen Kirchhain geborene Leo Strauss studierte Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften. Nach der Promotion bei Ernst Cassirer in Hamburg setzte er sein Studium bei Edmund Husserl und Martin Heidegger fort. Von 1925 bis 1932 arbeitete er an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Stipendien führten ihn danach über Paris und Cambridge in die USA. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und lehrte ab 1949 politische Philosophie an der University of Chicago. Strauss starb 1973 in Annapolis.
Wer sich in das philosophische Werk von Leo Strauss vertieft, muss lange lesen, bis er auf Passagen stösst, die ihn für die Gegenwart anschlussfähig machen. Einen Namen gemacht hat sich Stauss vor allem mit minuziösen, textnahen Interpretationen anderer Denker. Von den Vorsokratikern über Aristoteles und Platon bis zu Machiavelli, Maimonides und Spinoza – über sie alle hat er publiziert. Diesen Philosophiehistoriker stellt nun Heinrich Meier in seinem neuen Buch vor, dabei verzichtet er allerdings auf jeden Bezug auf Strauss’ Aktualität in den USA.
Philosophie – oder Theologie?
In seinen Arbeiten über die so unterschiedlichen Autoren beschäftigte Leo Strauss vor allem eine folgenreiche Alternative, die in begrifflicher Abwandlung wiederkehrt: der Gegensatz zwischen Theologie und Philosophie, Glauben und Rationalität, Offenbarung und Vernunft, Jerusalem und Athen, Orthodoxie und Atheismus.
Strauss gab sich mit dem einvernehmlichen Nebeneinander der Gegensätze nicht zufrieden. Wenn es um die letzten Dinge geht, konnte es in seinen Augen keinen Kompromiss geben. Auch wenn er wusste, dass die Philosophie die Religion genauso wenig widerlegen konnte wie die Religion die Philosophie, wollte er den Ursprung des Seins ergründen. Ihn trieb das ungute Gefühl um, dass die Moderne irgendetwas Ureigenes verschüttet habe. Anstatt die Menschen aus der von Platon beschriebenen Höhle ans Licht zu führen, habe die Aufklärung sie im Gegenteil in eine noch tieferliegende Höhle verbannt.
Weise Herrscher
Da es nicht möglich sei, «vor seinen Ursprüngen davonzulaufen», machte es sich Leo Strauss zur Lebensaufgabe, zu vormodernen Denkformen zurückzukehren. «Die Wegmarken, welche die Denker der Vergangenheit leiteten, müssen wiederentdeckt werden.» So findet in seinen Schriften eine Art Wiederbelebung längst vergangener Denkwelten statt, in denen der Offenbarungsglaube noch ein Bindemittel der Gesellschaft bildete. Kann es «wahre Gerechtigkeit geben, wenn es keine göttliche Herrschaft oder Vorsehung gibt»?
In seinem 1953 erschienenen Hauptwerk, «Natural Right and History», stellt Leo Strauss das Naturrecht, das von Natur aus Rechte und Gerechte, dem geschichtlichen Wandel gegenüber. Da «wahre Gerechtigkeit» nur im Naturrecht verwirklicht sei, gefährde das moderne historische Denken die überzeitlichen, unveräusserlichen Werte und Rechte des Menschen: Historismus und Relativismus, Szientismus und Pluralismus seien verantwortlich für den Verfall moderner Gesellschaften. Martin Heidegger, den Strauss für den grössten Philosophen des 20. Jahrhunderts hielt, sprach von «Seinsvergessenheit».
Konservative Revolution
Die Skepsis gegenüber der Gegenwart macht das Werk von Strauss attraktiv für Zeitgenossen, die eine gesellschaftspolitische Wende herbeisehnen. Sein esoterischer Stil passt ins Bild eines Denkers, der nach antikem Vorbild den Primat der Elite dem Diktat der Mehrheit vorzieht. «Das überhaupt beste Regime würde die absolute Herrschaft der Weisen sein», so Strauss. «Es wäre absurd, den freien Fluss der Weisheit durch irgendwelche Regulierungen zu hemmen; mithin muss die Herrschaft der Weisen absolute Herrschaft sein.»
Leo Stauss beschreitet in seinem Werk die philosophischen Wege, die zum vermeintlichen Abstieg führten: In den letzten 2500 Jahren wurden aus unveränderlichen, gleichsam ewigen Werten historisch bedingte, wissenschaftlich messbare Grössen. Es überrascht daher nicht, dass der Soziologe Max Weber mit seiner These, dass der zivilisatorische Fortschritt mit Entzauberung einhergehe, sein Intimfeind wurde.
Überraschend ist vielmehr, dass ein durch und durch konservativer, ja reaktionärer Denker wie Leo Strauss, den Hans Jonas als «ungeheuer weltfremden und ängstlichen Menschen» beschrieb, zum Vorbild von Tech-Milliardären wurde, die mit ihren Visionen und Innovationen die Welt revolutionieren wollen.
Heinrich Meier: Leo Strauss. Zur Sache der Politischen Philosophie. Verlag C. H. Beck, München 2025. 607 S., Fr. 53.90