Der Entschluss der britischen Regierung wird kontrovers aufgenommen. Angehörige der 72 Opfer und Überlebende des Brandes vom Juni 2017 kämpfen um Gerechtigkeit.
«Mein Vater hat zwei Friedhöfe – einen, auf dem wir ihn begraben haben, und einen im Grenfell Tower.» Das sagte Hamid Ali Jafari am Freitag gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Der Vater des 42-Jährigen kam im Juni 2017 beim Brand des rund siebzig Meter hohen Wohnturms im Londoner Stadtteil North Kensington ums Leben. Mit ihm fanden 71 weitere Personen den Tod in den Flammen. Die Bilder von dem in der Nacht lichterloh brennenden Gebäude gingen um die Welt und haben sich fest ins Gedächtnis der Briten eingeprägt. Der Brand im Grenfell Tower ging als derjenige mit den meisten Opfern in einem Wohngebäude seit den Nazi-Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg in die britische Geschichte ein.
Das ausgebrannte, 24-geschossige Gebäude ist mittlerweile mit einer Schutzhülle versehen. Das Gelände rundherum ist grossflächig mit einem Holzzaun abgesperrt. Botschaften und Bilder der Opfer sind daran befestigt. Viele Angehörige kommen hierher, wenn sie der Toten gedenken wollen. So wie Hamid Ali Jafari. «Wenn wir zum Turm kommen, fühle ich mich . . . in Frieden. Und wenn der Wind um den Turm weht, kann ich meinen Vater spüren», zitiert ihn die Nachrichtenagentur Reuters.
Über die Abrisspläne hat die britische Vize-Premierministerin Angela Rayner bereits am Mittwoch mit den Angehörigen der Opfer und Überlebenden des Brandes gesprochen. Nicht alle können sich mit dem Rückbau, der im Sommer beginnen und zwei Jahre dauern soll, abfinden.
So sagte die Vereinigung Grenfell United, die einen Teil der Betroffenen des Brandes vertritt, dass die Stimmen der Überlebenden und Hinterbliebenen von Rayner während der kurzen vierwöchigen Konsultation nicht berücksichtigt worden seien. «Die Stimmen der Hinterbliebenen in Bezug auf die Zukunft der Grabstätte unserer Lieben zu ignorieren, ist beschämend und unverzeihlich», hiess es.
Eine weitere Opfervereinigung, Grenfell Next of Kin (GNK), teilte dagegen auf der Plattform X mit, dass eine heikle Entscheidung getroffen worden sei. «Wünschen wir uns, dass der ganze Turm für immer stehen bleibt? Ja. Ist das eine Option? Aus statischer Sicht nicht», schreibt GNK. Ingenieure, die die Regierung beraten, befürchten, dass die Statik des Turms sich weiter verschlechtern werde und das Gebäude daher rückgebaut werden müsse.
This is what’s happening. pic.twitter.com/M1evTzzbya
— GRENFELLNEXTOFKIN (@Grenfellnextkin) February 6, 2025
Doch nicht nur der Abriss des Grenfell Towers belastet die Angehörigen. Eine öffentliche Untersuchung des Brandes kam im vergangenen Jahr in ihrem Abschlussbericht zu dem Schluss, dass der Tod aller 72 Opfer des Brandes vermeidbar gewesen wäre. Sie machte Versäumnisse der Regierung, der Bauindustrie und der Firmen, die an der Anbringung der brennbaren Aussenverkleidung beteiligt waren, für die Katastrophe verantwortlich. Mutmassliche Hauptursache für die Tragödie ist gemäss dem Bericht, dass bei der Modernisierung des Grenfell Towers im Jahr 2015 Verkleidungsstoffe aus Aluminium und ein Kern aus dem Kunststoff Polyethylen genutzt wurden. Diese wirkten in der Unglücksnacht wie ein Brandbeschleuniger.
Mehrere Überlebende haben erklärt, dass die Untersuchung jegliche Strafverfolgung verzögert hat, und einige sind der Meinung, dass der Grenfell Tower zumindest so lange stehen bleiben sollte, bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Es gibt Pläne für eine Gedenkstätte auf dem Grundstück. Ein endgültiger Entwurf wird für den Frühling 2026 erwartet. Hamid Ali Jafari, der seinen Vater beim Brand verloren hatte, sagte gegenüber Reuters, die Entscheidung der Regierung über den Abriss schmerze ihn. Man solle einige der Stockwerke des Gebäudes als Teil einer zukünftigen Gedenkstätte an diesem Ort erhalten können: «Wenn man den Turm nicht sieht, wird die Erinnerung daran ausgelöscht.»