Hochbegabte Spieler versagen, alle gehen sich auf die Nerven, und der Trainer ist ratlos – der FC Bayern kommt nicht aus der Krise.
Es gab Zeiten, da wäre vor einem Tag wie diesem Mitleid mit dem VfL Bochum angebracht gewesen. Am späten Sonntagnachmittag wird der grosse FC Bayern München in dem engen Stadion an der Castroper Strasse zu Gast sein, und wenn der Rekordmeister noch der alte, machtvolle FC Bayern der vergangenen Jahre wäre, würde nun sehr verlässlich eine krachende Demonstration der Stärke folgen.
Diese Art der Reaktion auf Niederlagen gehört traditionell zum Wesenskern des Dauermeisters aus München, aber diesmal können die heimstarken Bochumer mit guten Gründen auf einen Erfolg hoffen. Denn schon nach der 0:3-Demontage von Leverkusen am vorigen Samstag war die einstmals so gefürchtete Reaktion der Bayern schwach; die Partie bei Lazio Rom in der Champions League am Mittwoch ging ebenfalls verloren.
Irgendwie ist der alte «Mia san mia»-Mechanismus kaputt gegangen, das ist die Kernerkenntnis der zurückliegenden Woche. Sogar die Krisenkommunikation passt in das Bild vom geschrumpften Giganten von der Säbener Strasse.
Tuchel ist das Gesicht der Krise
Statt die alte, nachdrückliche Gelassenheit oder zumindest eine forsche «Jetzt erst recht»-Stimmung auszustrahlen, kramen die Verantwortlichen die Floskeln des Abstiegskampfes hervor. «Wir sitzen alle in einem Boot, es ist nicht einfach gerade», sagt Christoph Freund, der Sportdirektor, aber: «Wir kämpfen uns da gemeinsam raus.»
Erschwert wird die Umsetzung dieses Vorsatzes aber durch den Mann von der Trainerbank, der in schwierigem Gelände noch nie über die Navigationssicherheit verfügte, mit der Leute wie der frühere Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge Situationen wie diese unter Kontrolle brachten: Thomas Tuchel, der mehr und mehr zum Gesicht der Krise wird.
Als Tuchel am Mittwoch in Rom gefragt wird, ob er um seinen Job fürchte, reagiert er gewohnt angespannt. «Nein», sagt er, wiederholt diese Antwort auf Nachfrage und scheint innerlich vor Verärgerung zu beben. Tuchel, und das ist aus der Sicht interessierter Beobachter eigentlich sehr erfreulich, hat sich nie die Sprechkunst der oberflächlichen Wahrheiten angeeignet, die in den Interviewzonen und auf den Pressekonferenzen des Fussballs aufgeführt wird. Wenn er sich angegriffen fühlt, ist sein Groll genauso gut erkennbar wie seine Hilflosigkeit auf der Suche nach Lösungen.
So sagt er immer häufiger, dass er sich Leistungen nicht erklären könne. Am vorigen Wochenende räumt er ein, selber nicht zu wissen, warum Harry Kane in Leverkusen nicht einmal in die Nähe einer Torchance kam, und nach der Niederlage in Rom vom Mittwoch erklärt er: «Die zweite Halbzeit macht mich ratlos.» Und erwidert auf die Frage, warum das Team nach ordentlichem Beginn ohne erkennbaren Anlass das Vertrauen in das eigene Spiel verloren habe: «Ich habe keine Ahnung, ich habe keine Ahnung.»
Das wirkt nicht nur unsouverän, diese Offenheit macht Tuchel auch angreifbar, zumal er von Leuten umgeben ist, die vor den Kameras genau so fragen, dass seine Ehrlichkeit wie eine Schwäche aussieht. Womöglich auch in den Augen vieler Spieler. Wie viel Verantwortung Tuchel für den sportlichen Einbruch wirklich trägt, ist aber sehr unklar.
Denn es ist die Mannschaft, die gehemmt spielt, ohne jede Leichtigkeit, freudlos. Wer etwas aufmerksamer hinsieht, erkennt schnell, dass hier eine Kernfrage im Raum steht, die nicht nur den FC Bayern betrifft. Eine Frage, auf die weder Tuchel noch sonst jemand die Antwort kennt: Warum versagt diese unbestritten hochtalentierte Fussballergeneration um die Führungskräfte Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Leroy Sané sowohl in der Nationalmannschaft wie auch im Klub seit mehreren Jahren regelmässig genau dann, wenn es besonders wichtig wird?
Es ist ja nicht so, dass die Bayern derzeit trotz guten Leistungen gegen Mannschaften verlieren, die einfach noch besser sind. Sie spielen in diesen Momenten einfach schlecht. Seit nicht einmal einem Jahr ist Tuchel nun der Trainer des FC Bayern, und in dieser kurzen Zeit ist ihm das Kunststück gelungen, fünf K.o.-Spiele zu verlieren – eine spektakuläre Misserfolgsbilanz.
Auch deshalb wird in diesen Februartagen bisweilen an jenen Wendepunkt vor knapp einem Jahr zurückgedacht, als der damalige Vorstandsvorsitzende Oliver Kahn und sein Sportdirektor Hasan Salihamidzic sich dazu entschlossen, die Zusammenarbeit mit Trainer Julian Nagelsmann zu beenden.
🗣️ @OliverKahn zur Trennung von Julian Nagelsmann: «Wir haben die Pflicht und die Verantwortung, für den sportlichen Erfolg zu sorgen. Wir haben uns gefragt, woher es kommt, dass es in der Leistung der Mannschaft so große Schwankungen gibt. Wir haben uns alles ganz genau… pic.twitter.com/2btNXd7035
— FC Bayern München (@FCBayern) March 25, 2023
Die Bayern waren damals noch in allen drei Wettbewerben vertreten, doch Kahn sah «Ziele für diese und auch nächste Saison gefährdet». Also wurde Nagelsmann entlassen und Tuchel eingestellt. Salihamidzic und Kahn sind längst weg, die Probleme sind hingegen weiterhin da. Nur in einer noch ausgeprägteren Form.
Sogar Harry Kane hat schlechte Laune
So wirkt in den vergangenen Monaten die vielleicht wichtigste Kraft aller grossen Fussballerfolge immer schwächer beim FC Bayern: der innere Zusammenhalt des Teams, die Freude an der gemeinsamen Arbeit. Man muss nur in die Gesichter schauen, auf die Gesten, jeder scheint von irgendwem genervt zu sein. Diese schlechte Laune – und das ist sicher kein Zufall – prägt auch die deutsche Nationalmannschaftsgegenwart und hat anscheinend sogar Harry Kane erfasst.
Der Torjäger, der die Bayern zum Champions-League-Sieg schiessen sollte, trifft nicht mehr, er hat nicht einmal mehr Chancen, und das Lächeln ist auch aus seinem Gesicht verschwunden. Am allermeisten genervt ist aber der Trainer, weil immer mehr Leute seine Entlassung fordern, und das von der Bahn kippende Münchner Projekt seinen Ruf bedroht.
Es ist schon klar, dass Tuchel Schwächen hat und Dinge falsch macht wie bei seinem taktischen Fehlgriff bei der Niederlage in Leverkusen. Aber er coacht eben ein Team voller Probleme, für die er nichts kann. Ob und wann eine Entlassung drohen könnte, ist daher schwer zu sagen, zumal Uli Hoeness, der Patron des Klubs, sich in Trainerfragen schon lange den Dynamiken des öffentlichen Mainstreams verweigert. Bisher ist noch keinem Verantwortlichen ein Wort entglitten, das die Diskussion über den Trainer befeuert, die immer lauter dröhnt.
Aufsichtsratschef Herbert Hainer versucht die Lage am Donnerstag in einem Interview mit der Münchner «tz» durch Floskeln zu beruhigen, als er sagt: «Thomas Tuchel und sein Trainerteam arbeiten akribisch und engagiert. Wir brauchen nun eine Initialzündung (…). Daran arbeiten wir alle gemeinsam, und ich bin überzeugt, dass wir das schaffen.» Offen ist, wie viel von dieser Überzeugung nach der Reise zum VfL Bochum noch übrig ist.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»