Die Milchindustrie gibt dem Druck der protestierenden Bauern nach. Und das trotz bereits rekordhohem Milchpreis und steigenden Einkommen in der Landwirtschaft.
Seit Wochen demonstrieren europaweit Bäuerinnen und Bauern gegen die Agrarpolitik. Inzwischen ist die Protestwelle auch in die Schweiz geschwappt. Das Epizentrum des bäuerlichen Widerstands ist die Romandie: In Echallens im Kanton Waadt bildeten am Donnerstag mehrere hundert Bauern mit ihren Traktoren ein «SOS» auf einem Feld. Doch auch in der Deutschschweiz nimmt die Revolte Fahrt auf: In Gossau (SG), Weiningen (ZH), Amriswil (TG) oder Uffikon (LU) gab es Demonstrationen mit zum Teil mehreren Dutzend Traktoren.
Zentraler Kritikpunkt ist der Milchpreis. Dieser reiche nicht aus, um über die Runden zu kommen, finden die wütenden Bauern. Sie klagen über gestiegene Produktionskosten, die ihre Margen dahinschmelzen liessen, strengere Kontrollen und eine ausufernde Bürokratie, die einen rentablen Betrieb verunmöglichten.
Umso grösser war der Druck auf die Branchenorganisation Milch (BOM), die am Freitag den Richtpreis für die Milch fürs nächste Quartal festlegen musste. 4 bis 5 Rappen zusätzlich hatten die Bauern im Vorfeld gefordert. Und das, obwohl der Milchpreis so hoch ist wie nie in den letzten sechzehn Jahren. 71,7 Rappen erhielten die Produzenten 2023 pro Kilogramm Milch, das sind über 20 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. Würden die zwanzig Vertreter der Milchwirtschaft – unter ihnen Milchproduzenten ebenso wie Vertreter der Milchverarbeiter und des Detailhandels – den Protesten nachgeben und sich damit gleichsam erpressen lassen?
Nun beschloss die BOM, dass der Preis für Molkereimilch immerhin um 3 Rappen angehoben wird – allerdings erst für das dritte und vierte Quartal. Es handelt sich laut der Organisation um einen Kompromiss: Bauernvertreter hatten an der Sitzung eine sofortige Preiserhöhung um 4 Rappen gefordert. Sie blitzten mit ihrem Antrag jedoch ab. Zugleich ruft die BOM den Bund auf, auch die Verkäsungszulage um 3 Rappen pro Kilogramm Milch zu erhöhen, «um die angespannte wirtschaftliche Situation der Milchproduzenten zu verbessern».
Der BOM-Geschäftsführer Stefan Kohler erklärte am Freitagabend auf Anfrage, dass die Bauern mit dem heutigen Entscheid viel gewonnen hätten. Allerdings gehe die Milchbranche mit der Preiserhöhung ein beträchtliches Risiko ein. So drohten exportorientierte Milchverarbeiter im Wettbewerb mit den Konkurrenten aus der EU weiter abgehängt zu werden.
Denn die Kluft zwischen den Preisen in der Schweiz und jenen in der EU ist in letzter Zeit grösser geworden. Volle 32 Rappen bezahlen Schweizer Verarbeiter mehr für die Milch als EU-Unternehmen. «Für die exportierende Industrie ist ein solcher Preisunterschied nur schwer verkraftbar», sagt Kohler. Die Unternehmen bekundeten deshalb zunehmend Mühe, ihre Milchprodukte in Europa abzusetzen. Davon betroffen sind nicht nur Käse- und Babynahrungshersteller, sondern auch die Schokoladenindustrie.
Die Preisschere zu spüren bekommt die Verarbeitungsindustrie aber auch im Inland: So steht einheimischer Käse in der Schweiz in direktem Wettbewerb zum Importkäse. Steigt der Milchpreis, schwächt dies zum Beispiel die Marktposition von Schweizer Mozzarella-Herstellern gegenüber den italienischen Konkurrenten. Können sie ihren Käse nicht mehr absetzen, bekommen das auch die Milchbauern zu spüren, welche die Hersteller beliefern.
Anders als im Ausland können in der Schweiz die Bauern bei der Festsetzung des Richtpreises für Milch mitbestimmen: Von den zwanzig Vorstandsmitgliedern der BOM stammen zehn von bäuerlichen Organisationen. Dass die grossen Verarbeiter wie Emmi sowie die Grossverteiler Coop und Migros die Preise im Alleingang beschlössen, davon kann also keine Rede sein.
Arnaud Rochat, einer der führenden Köpfe der Traktor-Revolte, sieht nach dem BOM-Entscheid trotzdem keinen Anlass, die Proteste zu stoppen. «Die angekündigte Preiserhöhung ist ein guter Anfang, aber noch nicht genug. Wir wollten 5 Rappen», erklärt der Waadtländer Landwirt. Die Bauern würden weiter dafür kämpfen, dass der Milchpreis erhöht werde. Auch wolle man den Druck auf die Politik und die Grossverteiler aufrechterhalten. Von Strassenblockaden und ähnlichen Aktionen will Rochat vorderhand zwar absehen. «Das Spiel ist aber noch nicht zu Ende.»
Auch wenn es in der aufgeladenen Stimmung derzeit kaum jemand offen auszusprechen wagt: Der markante Anstieg des Milchpreises in den vergangenen Jahren dürfte laut Schätzungen von Branchenkennern dazu geführt haben, dass etwa zwei Drittel der Milchbetriebe ein höheres Einkommen verzeichnen als noch 2015. Das gilt weniger für Betriebe mit intensiver Milchproduktion, die einen hohen Einsatz von Kraftfutter voraussetzt. Sie leiden unter den gestiegenen Preisen für Futtermittel. Für Betriebe, die das Futter grösstenteils von der Weide holen, dürfte es dagegen tendenziell aufwärtsgegangen sein.
Einkommen um 30 Prozent gestiegen
Generell ist die Lage der Landwirtschaft nicht so miserabel, wie sie von der Agrarlobby aus naheliegenden Gründen gern gezeichnet wird. Diesen Schluss erlaubt ein neuer Bericht zu den Einkommen der Bauernfamilien, der – Zufall oder nicht – just am Freitag vom Bundesrat verabschiedet worden ist. Das Erste, was bei der Lektüre des 99-seitigen Werks auffällt, ist die rigorose Akribie, mit welcher die Schweizer Agrarbürokratie die Bauernbetriebe auch in finanzieller Hinsicht bemuttert. Bis ins letzte Detail werden ihre Budgets erfasst, vermessen und ausgewertet.
Vorab das grosse Bild: Im Durchschnitt haben die landwirtschaftlichen Einkommen von 2015 bis 2021 stetig zugenommen, 2022 sind sie zum ersten Mal wieder gesunken, um 1,3 Prozent. In der gesamten Phase von 2015 bis 2022 sind die Einkommen um 30 Prozent auf 79 700 Franken gestiegen. Diese Zahl allein genügt jedoch nicht, um die Frage zu beantworten, wie es den Bauernfamilien wirtschaftlich geht. Entscheidend für ihren Lebensstandard ist das Gesamteinkommen, inklusive Einkommen aus Tätigkeiten ausserhalb der Landwirtschaft sowie Familienzulagen oder Renten.
Natürlich erhebt der Bund auch diese Grösse: Das Gesamteinkommen eines Durchschnittshaushalts in der Landwirtschaft hat von 2015 bis 2022 um 25 Prozent auf 110 500 Franken zugenommen. Die Unterschiede zwischen den Regionen sind enorm. Während Bergbauern mit 90 700 Franken über die Runden kommen müssen, haben Betriebe im Tal durchschnittlich 130 000 Franken zur Verfügung.
Ist das nun viel oder wenig? Gemäss den Statistiken des Bundes haben die Einkommen der Bauernfamilien in den letzten Jahren stärker zugenommen als im Schweizer Mittel. Allerdings liegen sie gemäss den verfügbaren Vergleichsdaten nach wie vor unter dem Durchschnitt. Dieser lag für sämtliche Haushalte im Jahr 2020 bei 117 800 Franken. Der Rückstand der Bauern wird zudem dadurch vergrössert, dass Haushalte in der Landwirtschaft relativ gross sind, dass also das Einkommen für mehr Personen reichen muss.
Schlaue Bauern im Tal verdienen gut
Auf den zweiten Blick fällt das steile Gefälle innerhalb der Landwirtschaft auf. Die finanziellen Verhältnisse unterscheiden sich zum einen nach der topografischen Lage, der Grösse des Betriebs und der Ausrichtung. Vor allem grosse Bauernbetriebe in Talregionen erzielen teilweise ansehnliche Einkommen, die sich auch gegenüber dem Rest der Bevölkerung sehenlassen können.
Der Bund muss von Gesetzes wegen «anstreben», dass Bauern vergleichbare Löhne erzielen wie andere Erwerbstätige. Der regionale Vergleichslohn, den er dazu berechnet, wird mittlerweile von 45 Prozent der Talbauern übertroffen. Sie sind allein mit dem landwirtschaftlichen Verdienst überdurchschnittlich gut situiert. Solch erfolgreiche Bauern sind auch in Hügel- und Bergregionen zu finden, hier ist ihr Anteil aber deutlich kleiner (25 bzw. 15 Prozent).
Zum anderen spielen aber auch die Ausbildung des Betriebsleiters und namentlich dessen betriebswirtschaftliche Kompetenzen eine entscheidende Rolle. Die Zahlen, die der Bundesbericht auflistet, zeichnen ein deutliches Bild: Bauern, die eine Fachhochschule oder eine andere höhere Ausbildung absolviert haben, erzielen mit ihren Betrieben einen mittleren Verdienst von 75 000 Franken pro Familienarbeitskraft. 55 000 Franken sind es bei Betrieben, deren Chef lediglich eine Berufsausbildung abgeschlossen hat. Nur 37 000 Franken sind es bei Betriebsleitern ohne abgeschlossene Berufsausbildung.
Hier will der Bundesrat ansetzen: Wenn er sich durchsetzt, werden staatliche Subventionen künftig stärker an Ausbildungen und Kurse geknüpft als bisher. Allenfalls könnte sogar die Ausnahme von der Ausbildungspflicht für Kleinbetriebe im Berggebiet wegfallen. Da wird jedoch die Agrarlobby im Parlament ein gewichtiges Wort mitreden.