Mit einem historischen Entscheid korrigiert das Oberste Gericht eine jahrzehntealte Ungerechtigkeit. Das Urteil sollte als Anlass dienen, das Verhältnis zwischen den religiösen und den säkularen Bevölkerungsteilen neu zu denken.
«Es gibt Richter in Jerusalem!» – mit diesem Ausspruch, der dem Likud-Gründer Menachem Begin zugeschrieben wird, beklatschten am Dienstag verschiedene israelische Politiker das Urteil des Obersten Gerichts, wonach künftig auch Ultraorthodoxe in die Armee eingezogen werden müssen. Tatsächlich ist der Entscheid ein weiterer Beweis dafür, dass die einzige Demokratie im Nahen Osten über funktionierende Institutionen verfügt. Das Gericht hat das getan, was es tun soll: die Rechtslage klären, unabhängig davon, ob es der regierenden Koalition passt oder nicht.
Das Urteil ist allerdings nicht nur juristisch, sondern auch gesellschaftspolitisch richtig. Der Umstand, dass eine stetig wachsende Zahl an strenggläubigen Staatsbürgern relativ leicht der Dienstpflicht entgehen konnte, wird von einer grossen Mehrheit der Israeli zu Recht als eklatante Ungerechtigkeit empfunden. Und auch politisch herrscht von links bis rechts ein weitgehender Konsens, dass die bisherige Ausnahmepraxis eigentlich unhaltbar war. So zeigt der Krieg gegen die Hamas und den Hizbullah, dass die Last des Armeedienstes dringend auf mehr Schultern verteilt werden muss, um das Land langfristig zu schützen.
Die Wehrpflicht für Ultraorthodoxe beschäftigt die israelische Politik seit Jahren. Mehrere Regierungen sind daran gescheitert, eine gangbare Lösung für diese heikle Frage zu finden. Stattdessen setzten sie auf halbgare Abmachungen und politische Tricks. Das Gericht hat diesem Durchwursteln nun ein Ende gesetzt. Das ist eine gute Nachricht. Denn das Urteil gibt Israel die Chance, das Verhältnis zwischen den religiösen und den säkularen Bevölkerungsteilen neu zu denken.
Der Elfenbeinturm der Ultraorthodoxen
Die Haredim, wie die Ultraorthodoxen auf Hebräisch genannt werden, leben weitgehend abgeschottet vom Rest der Gesellschaft, pflegen ihre eigenen Bräuche und halten sich strikt an die religiösen Gesetze. Das gilt auch für die ultraorthodoxen Gemeinden in Zürich, New York oder London. Doch nirgendwo sind die Haredim derart isoliert wie in Israel. Das ist in erster Linie das zweifelhafte Verdienst der ultraorthodoxen Parteien, die immerhin 13 Prozent der Bevölkerung vertreten und damit grosses politisches Gewicht haben.
Bei den notorisch komplexen Regierungsbildungen spielten sie oft das Zünglein an der Waage und liessen sich dafür fürstlich entlöhnen – mit Sozialleistungen, Subventionen für religiöse Schulen und eben der Befreiung von der Wehrpflicht. Damit haben sie ihre Gemeinschaft in eine faktische Abhängigkeit gedrängt. Ein grosser Teil der Haredim ist arbeitslos und schlecht gebildet. Während langer Jahre ist das einigermassen gut gegangen. Doch wenn die rasant wachsende Gemeinschaft dereinst 25 oder 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht, wird das zu einem Problem für Israel.
Gleichzeitig gilt es festzuhalten: Es hat durchaus seine Berechtigung, dass im jüdischen Staat die jüdische Kultur gepflegt und hochgehalten wird – jene Kultur, die die Nazis einst auslöschen wollten. Viele Israeli sind den Haredim dankbar, dass sie dies tun. Doch Orthodoxie und Militärdienst schliessen sich nicht gegenseitig aus.
Ein Beitrag zum Funktionieren des Staates
Aus Sicht der ultraorthodoxen Politiker droht nun eine «spirituelle Gefahr». Sie fürchten, dass der sorgfältig errichtete Zaun um ihre Gemeinschaft eingerissen werden könnte, wenn zu viele junge Haredim in der Armee auf das säkulare Israel treffen. Das mag sein – aber eine schlechte Sache ist das nicht. Es ist an der Zeit, dass auch die Ultraorthodoxen ihren Beitrag zum Funktionieren des israelischen Staates leisten und sich stärker integrieren. Das Urteil des Obersten Gerichtes ermöglicht es, einen ersten Schritt in diese Richtung zu unternehmen.
Zwar wird sich die Netanyahu-Regierung darum bemühen, die aufgebrachten Ultraorthodoxen mit neuen Massnahmen zu besänftigen. Ob dies gelingt, ist allerdings fraglich – selbst in den Reihen der Koalition ist der Widerstand gegen die Sonderbehandlung der Haredim gross. Die Angelegenheit hat das Potenzial, die Regierung zerbrechen zu lassen.







