Am Donnerstagabend beginnt der Play-off-Viertelfinal zwischen den ZSC Lions und dem EHC Kloten. Chris Baltisberger, Urgestein des ZSC, vertraut auf die Kraft der Imagination.
Wenn Chris Baltisberger die Augen schliesst, öffnet sich ihm eine Parallelwelt. Eine Audiodatei versetzt ihn in die richtige Stimmung, sie helfe ihm, «das Tor zum Unterbewusstsein zu öffnen», so erklärt es der ZSC-Stürmer. Dann fällt der Fokus auf das Familienwappen der Baltisbergers, es ist sein «Ankerbild», und schon ist das Kopfkino angeworfen.
Vor seinem inneren Auge spielt Baltisberger seine Einsätze auf dem Eis durch, wieder und wieder. Er macht Checks fertig, erzielt Tore, gewinnt Laufduelle. Jeden Tag geht das so, seit knapp einem Jahrzehnt. «Es ist so, als würdest du dir einen Clip deiner Karrierehöhepunkte ansehen. Irgendwann kann der Kopf nicht mehr unterscheiden, was Vorstellung und was Realität ist. Mir hilft das enorm», sagt Baltisberger.
Sportler machen sich die Kraft der Visualisierung seit langem zunutze – schon die Basketball-Lichtgestalt Michael Jordan schwor auf sie. Und es ist nicht einfach eingebildeter Hokuspokus. 1996 führte der amerikanische Doktor Judd Blaslotto bei einem College-Basketballteam in Chicago eine Studie durch. Er unterteilte die Mannschaft in drei Gruppen: Ein Drittel trainierte einen Monat lang überhaupt nicht. Ein Drittel übte jeden Tag dreissig Minuten Freiwürfe. Und ein Drittel erhielt die Aufgabe, sich in der Trainingshalle täglich eine halbe Stunde lang mit geschlossenen Augen vorzustellen, wie jeder Freiwurf im Korb landet.
Bei Gruppe A verbesserten sich die Resultate nicht. Die Erfolgsquote der Spieler in den Gruppen B und C verbesserte sich um 24 beziehungsweise 23 Prozent; die Steigerung war praktisch identisch.
Dustin Brown, eine Verstärkung aus der NHL, diente ihm als Vorbild
Chris Baltisberger entdeckte die Methodik für sich, als er in jungen Jahren Antworten auf die Frage suchte, wie es möglich ist, dass seine Leistungen teilweise innerhalb von 24 Stunden so extrem schwankten. Nicht einmal zwingend die Qualität, sondern die eigene Wahrnehmung davon.
Baltisberger sagt: «Es kam vor, dass ich am Freitag das Gefühl hatte, dass alles funktioniert. Und am Samstag fühlte es sich dann an, als ob ich den Sport verlernt hätte. Da habe ich realisiert, dass der mentale Aspekt eigentlich noch wichtiger ist als die Physis. In der höchsten Liga haben alle den Körper und die Fitness, um ihre Leistung zu bringen. Es ist der Kopf, der den Unterschied ausmacht.»
Der Zürcher ist der tiefen Überzeugung, dass Menschen in der Lage sind, Bewegungsabläufe zu verinnerlichen, indem sie sie abschauen. Baltisberger tat das einst selbst: Dustin Brown, die Lockout-Verstärkung des ZSC in der Saison 2012/13, beeindruckte ihn so sehr, dass er sich stundenlang Videos des Amerikaners ansah in der Hoffnung, dessen Spielstil kopieren zu können. Brown hat weit über tausend Partien für die NHL-Franchise der Los Angeles Kings absolviert.
Heute beobachtet Baltisberger bei seinem Sohn das gleiche Phänomen, wenn dieser im Training versucht, die Tricks der ZSC-Profis nachzuahmen.
Es lässt sich nicht beziffern, wie viele Tore und Assists Chris Baltisberger seinen Spezialtrainings zu verdanken hat. Aber er sagt, dass er ohne sie möglicherweise gar nicht mehr Eishockey spielen würde. Baltisberger, das 33 Jahre alte Urgestein des ZSC, gehörte zu den besten, kräftigsten Flügelstürmern der Liga. Auf dem Zenit seines Schaffens waren die Leistungen 2018 so eindrücklich, dass die NHL-Organisation der Edmonton Oilers ihn in ein Trainingscamp einlud.
Doch Baltisberger ist immer in Zürich geblieben; er hat seine gesamte Karriere in der ZSC-Organisation verbracht und wurde vier Mal Schweizer Meister. Aus dem heutigen Kader ist nur der Captain Patrick Geering länger dabei. Auch in seit einiger Zeit reduzierter Rolle ist Baltisberger Identifikationsfigur und Publikumsliebling: Als der Klub vor zwei Jahren zögerte, seinen auslaufenden Vertrag zu verlängern, machten sich aktive Fans mit einem Spruchband für ihn stark. Inzwischen ist Baltisberger bis 2026 an den Verein gebunden.
«Ein bisschen wie in der Schauspielerei»
Baltisberger ist ein physisch starker Spieler, ein Sturmtank, der 91 Kilogramm auf die Waage bringt. Seine Spielweise hat etwas Unzimperliches, er ist einer, der auf dem Eis oft und gerne austeilt. Über die Jahre hatte er immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen, eine Spiralfraktur im Schienbein 2021 etwa machte ihn langsamer.
Baltisberger erzählt: «Der Arzt sagte mir damals nach der Operation, dass ich mich möglicherweise damit abfinden müsse, dass es nicht mehr reiche. Ich kämpfte mich zwar zurück, sass aber teilweise überzählig auf der Tribüne. In solchen Phasen brauchst du etwas, was dir Halt gibt. Du musst dir dein Selbstvertrauen irgendwoher holen.»
In den schwierigen Momenten tat er das mit geschlossenen Augen, zu Hause im Bett. «Ein bisschen ist es wie in der Schauspielerei. Du stellst dir vor, wie du deine Rolle perfekt ausfüllst. Das gibt dir ein gutes Feeling. Und darauf kommt es ja an: im Moment zu leben, den totalen Fokus zu haben.»
Ohne gutes Gefühl im Bauch, sagt Baltisberger, könne er seine Leistung nicht abrufen. «Die Visualisierung hilft mir, meine Bestimmung zu finden. Du musst ja einen gewissen Sinn in dem sehen, was du machst. Und Freude empfinden. Wenn ich diese Bilder im Kopf habe, ist das jeden Tag der Fall.»
Sein Vater erlitt während der letztjährigen Play-off-Finalserie einen Herzstillstand
Die Imagination ist nur ein Aspekt auf Baltisbergers Trainingsspektrum. Seit vielen Jahren arbeitet er mit einem Neuro-Coach zusammen; ein Fokus liegt auf dem Umgang mit Stresssituationen.
Baltisberger sagt, Atemtechniken hätten ihm diesbezüglich stark geholfen. Gerade im Play-off ist der Schlaf ein Dauerthema; die Praxis der laxen Verschreibung von Schlafmitteln hat zwar abgenommen, aber noch immer greifen Spieler zu Tabletten, wenn sie nicht zur Ruhe finden. «Ich habe das als junger Spieler bei Kollegen gesehen und mir gesagt, dass ich ganz sicher nie Schlafmittel konsumieren will. Das Problem ist, dass du dich an Spieltagen bis 22 Uhr 30 gefühlsmässig überspitzt formuliert in einem Kriegszustand befindest, dann aber eigentlich um Mitternacht schlafen solltest. Atemübungen helfen mir, Körper und Geist herunterzufahren.»
Das Themenfeld fasziniert Baltisberger so sehr, dass er sich jeweils im Sommer zum Neuro-Coach/Mentaltrainer ausbilden lässt. Schon jetzt unterstützt er Nachwuchsspieler des ZSC in diesem Bereich.
Vorerst aber liegt sein Hauptaugenmerk darauf, dem ZSC bei der Hatz auf die nächste Trophäe zu helfen. Im Vorjahr trug Baltisberger zum zehnten Meistertitel der Klubgeschichte bei, an der Seite seines inzwischen zu den SCL Tigers weitergezogenen Bruders Phil.
Die Familie erlebte da aufwühlende Wochen – der Vater der Brüder hatte während der Finalserie des ZSC gegen Lausanne einen Herzstillstand erlitten. Es gehe dem Vater unterdessen deutlich besser, sagt Chris Baltisberger, er sei auch beim Triumph in der Champions Hockey League wieder im Stadion gewesen. «Das war emotional, diesen Titel mit ihm feiern zu können», sagt Baltisberger.
Es ist ein weiteres Bild im langen, täglich abgespielten Höhepunkte-Clip im Kopf von Chris Baltisberger.