Der NDB kommt nicht zur Ruhe. Nun geht mit Christian Dussey der Mann, der den Geheimdienst für die Zukunft hätte fit machen sollen. In der Spionageabwehr klaffen grosse Lücken.
Es sei, als würde man ein Flugzeug mitten im Flug umbauen: So beschrieb Christian Dussey seine Aufgabe, die sich als Mission impossible erwiesen hat. Vergangene Woche wurde publik, dass der Chef des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) seinen Posten verlassen wird. Er sei «müde», erklärte er vor den Medien. Die Schweiz muss nun einen neuen obersten Geheimdienstler finden – und dies zur Unzeit: Die Verteidigungsministerin Viola Amherd tritt in wenigen Tagen ab, der Armeechef Thomas Süssli hat wie Dussey seine Kündigung eingereicht, und die ohnehin schon unsichere geopolitische Lage ist noch prekärer geworden.
Doch der Abgang ist letztlich eine logische Konsequenz. Dussey, ein Mann mit Meriten in der Diplomatie, wollte den Nachrichtendienst im Auftrag seiner Chefin Amherd komplett reorganisieren, nach modernen Managementtheorien, mit neuem Organigramm. Diese angestrebte «Transformation» ist offensichtlich missglückt: Die Stimmung im Dienst ist miserabel, wie Mitarbeiterbefragungen gezeigt haben, die Fluktuation ist so hoch, dass in den Medien von einem «Exodus» des Personals die Rede war. Das Vertrauen ist ramponiert. Und das in einem People-Business: In der Welt der Geheimdienste sind langjährige persönliche Kontakte essenziell, gerade mit den ausländischen Partnerdiensten. Zudem ist Erfahrung entscheidend, damit die vielbeschworene «erste Verteidigungslinie des Staates» funktioniert.
Vertraulich hat die NZZ mit mehreren Insidern gesprochen, die den Nachrichtendienst aus früheren oder jetzigen Tätigkeiten kennen. Sie betonen, dass der neue Vorsteher des Verteidigungsdepartements (VBS), der nächste Woche gewählt wird, als Erstes die Baustelle NDB anpacken müsse. Das habe absolute Priorität, weil hier das derzeit grösste Gefahrenpotenzial liege, nicht nur für die Sicherheit des Landes: Die neutrale Schweiz ist Gaststaat vieler internationaler Organisationen und seit je ein Tummelplatz für Agenten.
Top-Spion per Inserat
Dass im «Pentagon», wie das Hauptquartier des NDB in Bern genannt wird, Unruhe herrscht, zeigte sich schon vor einigen Wochen auf dem Job-Portal des Bundes. Da wird per Inserat ein «Sektionschef in der Russlandbearbeitung» gesucht. Darin steht nebulös, zur Aufgabe gehöre, «die Sektion in einem komplexen Tätigkeitsbereich in personeller, organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht zu führen». Im Stelleninserat heisst es bloss, das «Verständnis der nachrichtendienstlichen Arbeit» und «Russischkenntnisse» seien «von Vorteil». Doch im neuen Organigramm des NDB handelt es sich um eine Schlüsselstelle: Neben dem «Russia Wing» gibt es nur noch eine Abteilung für China und eine für die «übrige Welt».
Umso ungewöhnlicher ist die öffentliche Ausschreibung des Top-Postens. Sie offenbart, dass intern kaum geeignete Kandidaten zu finden sind, was bei einer derart zentralen und gut dotierten Abteilung zu erwarten wäre. Mit der Offenlegung dieser Schwachstelle wird ein beunruhigendes Signal nach aussen gesendet: Dass die Schweiz öffentlich nach Russlandexperten suchen muss, haben bestimmt auch die Russen mitbekommen.
In seinem Lagebericht vom vergangenen Herbst hält der NDB fest: «Die grösste Bedrohung der Schweiz durch Spionage geht aktuell von russischen Nachrichtendiensten aus.» Von einem aggressiven Verhalten im «bevorzugten Aktionsraum» Schweiz ist die Rede. Die russischen Nachrichtendienste unterhalten hier getarnte Stützpunkte, sogenannte Residenturen, zudem betreiben sie Tarnfirmen. Nicht nur Spionage ist ein Ziel der ausländischen Agenten, sondern auch Desinformation, Destabilisierung, Cyberattacken oder die Beschaffung sanktionierter Güter. Der NDB schreibt von ihm bekannten «Netzwerken», zu denen auch schweizerische Staatsangehörige gehörten. Russische Nachrichtendienstoffiziere würden vor allem als angebliche Diplomaten sowie als administratives und technisches Personal der Vertretungen eingeschleust. Insider gehen davon aus, dass rund ein Drittel der russischen Botschaftsangestellten in Wahrheit Spione sind, das wären rund siebzig bis achtzig Personen.
Der Historiker und Geheimdienstexperte Adrian Hänni schätzt, dass auf Schweizer Boden allein die russischen Dienste über mehr Personal verfügen als der NDB über Mitarbeiter zur Spionageabwehr. Generell sei nach dem Kalten Krieg in vielen europäischen Staaten die Spionageabwehr stark zurückgefahren worden: «Stattdessen hatte die Terrorismusbekämpfung höchste Priorität. Erst in den letzten Jahren hat die Spionageabwehr wieder schrittweise an Bedeutung gewonnen.»
«Düsteres Bild»
Dabei war schon lange klar, dass es in diesem Bereich hapert. Im Juni 2011 verfasste der NDB eine interne Kurzanalyse über die «Herausforderungen» der Spionageabwehr. Sie war nicht für die Öffentlichkeit gedacht, wurde aber einige Jahre später in einem Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments erwähnt. Bezüglich der Fähigkeiten des NDB zeichnete dieser selbst ein «düsteres Bild». Auch zeigte sich, «wie stark die Spionageabwehr des NDB auf Hinweise von Partnerdiensten angewiesen war».
Laut der internen Analyse «war der NDB selber kaum im Vorfeld aktiv, sondern musste sich oft mit einer reaktiven Rolle begnügen». Beunruhigend war auch, dass die Partnerdienste dem NDB nur die Fälle signalisiert hatten, bei denen eine Zusammenarbeit mit dem NDB auch in ihrem Interesse war. In der Abwehr von Wirtschaftsspionage erschienen «sowohl die Zahl der Operationen als auch die eingesetzten Personalressourcen bescheiden».
Die grössten Schweizer Unternehmen wie Nestlé, UBS, Novartis oder Roche verlassen sich schon längst nicht mehr auf den NDB. Für die Abwehr von Wirtschaftsspionage beschäftigen sie in ihren Sicherheitsdiensten ausgewiesene Profis.
Seit 2010 konnte der NDB seinen Personalbestand zwar fast verdoppeln. Im vergangenen Jahr hatte er 434 Vollzeitstellen, er war damit aber noch immer der «kleinste Geheimdienst Europas», wie das Direktionsmitglied Juliette Noto öffentlich klagte. In Analogie zum Fussball verortet ein Experte die Schweizer Spionageabwehr denn auch nicht in der Champions League, sondern bloss in der drittklassigen Conference League.
Dussey forderte letztes Jahr 150 zusätzliche Stellen, erhielt aber nur deren 10. Das heisst, der NDB hat heute einerseits zu wenige Ressourcen und muss daher Prioritäten setzen: Für die Observation eines einzigen ausländischen Agenten rund um die Uhr braucht es zum Beispiel bereits 15 Personen. Andererseits verlassen zu viele Mitarbeiter den Dienst. Sie können nicht so leicht ersetzt werden, denn das «Handwerk» erlernt man während Jahren «on the job».
Im Bereich der Spionageabwehr hat die Politik eine vermeintliche Lösung gefunden. So forderte ein parlamentarischer Vorstoss die konsequente Ausweisung von russischen und anderen ausländischen Spionen, wie es viele westliche Staaten seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine getan hatten. Auch der Bundesrat hat sich dafür ausgesprochen. Zwar ist verbotener Nachrichtendienst in der Schweiz strafbar, aber da viele Spione einem diplomatischen Corps angehören, können sie sich auf ihre Immunität berufen.
Doch ausländische Agenten zu Personae non gratae zu erklären, wird von Experten auch kritisch gesehen. Angemeldete Botschaftsangestellte sind vergleichsweise gut zu kontrollieren – und man signalisiert ihnen, dass sie unter Beobachtung stehen. Weist man sie hingegen aus, kommt ohnehin gleich Ersatz – oder sie kommen selbst wieder, aber dann «undercover» und nicht mehr angemeldet als Botschaftsmitglieder.
Der Historiker Adrian Hänni erwähnt noch einen weiteren Punkt: «Für die Spionageabwehr kann es interessant sein, einen identifizierten Spion über einen gewissen Zeitraum zu beobachten. Auf diese Weise können wertvolle Erkenntnisse über die Aktivitäten des gegnerischen Dienstes gewonnen werden.» Für grössere Operationen würden sowieso speziell ausgebildete Kommandos eingeflogen, die Residentur stelle einzig die Infrastruktur zur Verfügung. Mitunter werden aber auch solche Agenten mit Diplomatenpässen ausgestattet – wie etwa die beiden als Spengler getarnten Russen, die im Sommer 2019 in Davos bei Vorbereitungen zum Ausspionieren des WEF erwischt wurden.
Was tun die Chinesen?
Einig sind sich die Experten, dass im Vergleich zu den Russen die chinesischen Spione viel schwieriger zu identifizieren sind. Die Volksrepublik betreibt mehrere zivile und militärische Nachrichtendienste, die auch hierzulande an Bedeutung gewinnen, wie der NDB in seinem Lagebericht warnt – und wie sich nun mit dem China-Desk im neuen Organigramm niederschlägt. Zwar treten auch chinesische Agenten als Diplomaten auf. Aber noch viel häufiger kommen sie getarnt als Geschäftsleute, Touristen, Journalisten oder Vertreter von angeblich zivilgesellschaftlichen Organisationen. Spektakulär war vor gut einem Jahr der zufällig aufgeklärte Fall von Meiringen: Dort hatten Chinesen den Gasthof Rössli gekauft – mutmasslich, um auf dem nahe gelegenen Flugplatz den Kampfjet F-35 auszukundschaften.
Ein grosses Risiko seien jene Chinesen, die als Studenten oder Forscher in die Schweiz kämen und danach in die Wirtschaft gingen, um dort verbotene Spionage zu betreiben. Als eigentliches «Krebsgeschwür» bezeichnet ein ehemaliges, hochrangiges Mitglied des NDB diese Praxis.
Im Nachrichtendienstgesetz Chinas heisst es, dass alle Staatsangehörigen die Geheimdienste der Volksrepublik «unterstützen, ihnen helfen und mit ihnen zusammenarbeiten» müssen. Je nach Bedarf wird Druck aufgesetzt. Es könne Jahre dauern, erzählt der ehemalige NDB-Mitarbeiter, bis zum Beispiel der Auftrag komme, einen einstigen Studienkollegen zu kontaktieren, der inzwischen eine Topposition in der Schweizer Industrie besetzt. Chinesische Frauen würden zudem auch als «Honeytrap» eingesetzt, um mittels vorgespielter romantischer Beziehung an Informationen zu gelangen.
Als Instrument der Spionageabwehr betreibt der NDB ein Sensibilisierungsprogramm namens Prophylax. Damit werden die Hochschulen und Vertreter der Wirtschaft über Spionage informiert, mit Beratungen, einer Broschüre oder dem Film «Im Visier». Schlagzeilen gemacht hat jüngst, als die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) gezielt Gegenmassnahmen eingeleitet hat. In Zukunft sollen Forscher aus China – und anderen Ländern – einer vertieften Sicherheitskontrolle unterzogen werden.
Wie ernst die Tätigkeiten der chinesischen Dienste zu nehmen sind, hat jüngst auch ein Forschungsbericht gezeigt, der ihr Vorgehen gegen Tibeter und Uiguren in der Schweiz dokumentiert hat.
Die chinesische Spionagetätigkeit in der Schweiz hat eine lange Geschichte. Die Bundespolizei, früher für die Spionageabwehr zuständig, beschäftigte sich schon Anfang der 1950er Jahre mit chinesischen Spionen. Zehntausende Akten zeugen heute im Bundesarchiv davon, wie die Schweiz im Kalten Krieg ein regelrechter Geheimdienst-Hub Chinas war – für Operationen im Westen. Mit Feng Xuan hatte Peking einen der bedeutendsten Nachrichtendienstchefs als «Diplomaten» nach Bern geschickt. Schon damals war Industriespionage verbreitet: Es gab mannigfaltige Versuche, Studenten in der Schweiz zu rekrutieren, besonders Physiker und Ingenieure.
Und schon damals war die Identifikation der Spione ein Problem. 1955 schrieb der damalige Chef der Bundespolizei, das sei «aufgrund der Sprache und der Unmöglichkeit, die Chinesen voneinander zu unterscheiden, besonders schwierig». Mitte der 1960er Jahre bilanzierte ein amerikanischer Journalist: «Die Schweizer Spionageabwehr ist so löchrig wie der Schweizer Käse.» Nur dank ausländischen Diensten wie der CIA und dem MI 6 erfuhren die Schweizer ungefähr, was in ihrem Land lief.
Die Abhängigkeit von den grossen Partnerdiensten ist geblieben. Und hier orten Experten ein weiteres Risiko für den NDB, das durch den Abgang von Christian Dussey entstehen könnte. Denn erfahrungsgemäss sind ausländische Dienste zurückhaltend beim Teilen von brisanten Informationen, solange die Nachfolge an der Spitze des Geheimdienstes nicht geregelt ist – und so viel Unruhe herrscht. Der Kontakt auf höchster Ebene ist in diesem Metier entscheidend: Als Direktor eines Dienstes spricht man in der Regel mit seinesgleichen, also von Chef zu Chef. Dussey wollte eigentlich bereits diesen Sommer zurücktreten. Doch auf Wunsch der abtretenden VBS-Chefin Viola Amherd soll er – trotz Amtsmüdigkeit – bis März 2026 auf seinem Posten bleiben, um einen geordneten Übergang zu ermöglichen.
Mindestens so wahrscheinlich ist aber, dass Christian Dussey in dieser langen Übergangszeit zu einer klassischen «lame duck» wird, die nicht mehr ernst genommen wird – weder intern von den Mitarbeitern noch extern von den Partnerdiensten.