«Wehret den Anfängen . . .»: Der Jäger Thomas Schöpfer bekämpft im Baselbiet den Waschbären – ein Tier, das er noch nie gesehen hat.
Als ein Einwohner von Seltisberg im Kanton Baselland in einer Novembernacht heimkehrte, sah er vor sich ein Tier, das er noch nie gesehen hatte. Kein Fuchs, kein Dachs, eine Katze war es auch nicht. Im Internet kam er dem Rätsel auf die Spur: Es muss der Waschbär gewesen sein.
Zumal ein Dorf weiter, in Bubendorf, schon Waschbären gesichtet wurden, so wie auch in Liestal, in Lausen, in Sissach. Mehrere Waschbären wurden bereits erlegt. In einer Zeitung stand, Seltisberg sei umzingelt.
Und so ist an diesem Dezemberabend der Jagdaufseher Thomas Schöpfer, 62, im Dorf unterwegs, ausgerüstet mit schweren Schuhen, Jack-Wolfskin-Jacke und einer Wärmebildkamera. Ein Gewehr hat er nicht dabei, «ich kann doch in der Siedlung nicht schiessen!». Würde er einem Waschbären begegnen, er würde eine Falle organisieren. Aber er hat den Waschbären noch nie gesehen.
«Im Eigenstudium» hat er sich über ihn kundig gemacht. Der Waschbär gehöre zu jenen fremden Tieren und Arten, die nach der Eroberung von Amerika nach Europa eingewandert seien, erklärt er. So wie etwa auch die Kartoffel, die wir aber liebgewonnen hätten, weil sie anders als der Waschbär kein invasives Tier sei, das die einheimische Fauna und Flora verdränge. «Es ist überall Bewegung auf der Welt», sagt er, «so ist es mit Pilzen, Bakterien und Tieren, das ist die Globalisierung.»
In dieser kalten Nacht von Seltisberg wirkt es, als versuche der Jäger Schöpfer in der Unordnung der Gegenwart ein bisschen Ordnung wiederherzustellen.
Der Waschbär macht es ihm nicht leicht. Er sei ein Generalist, schildert Schöpfer, er könne schwimmen und sogar fischen, er fresse «fast alles, was kreucht und fleucht», er klettere die höchsten Bäume hoch und räume Vogelnester aus. «Andere Tiere sind spezialisiert, aber der Waschbär ist anders: Er ist ein Räuber, der alles frisst – und keine natürlichen Feinde hat.» Er nistet in Dachböden, die er verwüstet und verschmutzt. Er kann Krankheiten übertragen, auf Haustiere, auf die Menschen.
«Die Ausbreitung des Waschbären ist deshalb problematisch, weil es sich hier um eine invasive gebietsfremde Art handelt», so die Warnung des Amtes für Wald beider Basel in den letzten Tagen. «Si sin häärzig zum Aaluege, aber für Mänsch und Tier e ächti Gfoor», hiess es, leicht besorgt, bei Tele Basel. In der Nordwestschweiz, vor allem im Baselbiet und im Aargau, ist der Waschbär so verbreitet wie nirgendwo sonst in der Schweiz – wohl weil er aus Deutschland eingewandert ist, wo er einst zur Pelzproduktion eingeführt wurde. Jüngst wurde der Waschbär selbst in Basel-Stadt gesichtet. Die Leute sind aufgefordert, das Futter für ihre Haustiere nicht vor die Haustüre zu stellen, Komposthaufen abzudecken, Sichtungen zu melden.
Theoretisch nicht zu viel Herz
Der Jäger Schöpfer steht in einer schmalen Quartierstrasse, mitten in der Einfamilienhausschweiz, und schaut durch seine Wärmebildkamera. «Schauen Sie hier», sagt er, «solche alten Dächer mit Vorsprüngen sind für den Waschbären interessant!» Er schaut in eine Güllengrube hinab, in die Bäume hinauf, dann in den Futtergang eines Bauernhofes hinein – «da ist sogar die Türe offen, das ist wunderbar für ihn». Einmal in der Woche ist er unterwegs, immer nachts, wenn der Waschbär aktiv wird. Er hat im Internet seinen Gang studiert und sich vorgestellt, wie er auf dem Wärmebild aussehen würde. Sein geringelter Schwanz und auch seine schwarze Gesichtsmaske wären nicht als solche zu erkennen. Er würde nur hellgrell leuchten.
Von seinem Nachbarn in Bubendorf weiss Schöpfer, was der Waschbär zu leisten vermag: So dürfte er tatsächlich im Garten das Kabel ausgegraben haben, das der Nachbar ausgelegt hat, um seinem Rasenmäherroboter eine Orientierung zu geben. Einem benachbarten Bauer soll er die Einfahrt ins Tenn vollgekotet haben.
Der Jäger Schöpfer ist fasziniert von Tieren, nächtelang wartet er auf seinem Sitz auf Wildschweine, die er dafür schätzt, wie klug sie sind. Den Waschbären, sagt er, sehe er ganz sachlich: «Er passt einfach nicht zu uns, er bringt Probleme. Vielleicht finden ihn im Moment viele herzig, aber wenn er sich dereinst ausbreiten sollte, ist das vorbei.» Er ist fasziniert von seinem Multitasking, aber als Jäger müsse er darüber hinwegschauen: «Ich darf theoretisch nicht zu viel Herz aufbringen für so ein Tier, das geht einfach nicht, sonst kann ich es nachher nicht erlegen.» In der Jagdverordnung steht, es gelte, die Ausbreitung des Waschbären einzudämmen. Daran müssen sich die Jäger halten.
Der Mensch und sein Streben
Die Nacht ist kalt und klar, die Sicht gut. Als Schöpfer draussen vor dem Dorf steht und weit hinaus auf ein Feld schaut, verfärbt sich seine Kamera – aber es ist kein Waschbär, eher ein Fuchs. Die Tierwelt ist in Bewegung. Am meisten geben den Jägern im Baselbiet zwar immer noch die Wildschweine und das Rehwild zu tun. Der Luchs ist sehr präsent, ist aber geschützt. Und in einer Nacht vor drei Jahren war Schöpfer draussen unterwegs, als er vor sich ein Tier sah, das eigentlich ein Fuchs hätte sein müssen, aber kein Fuchs war.
«Es ist wahr», sagt er, «es war ein Wolf.» Es war in Seltisberg, ausserhalb des Dorfes – und als eine Woche später eine Frau meldete, sie habe einen Wolf gesehen, rückte Schöpfer aus, um Spuren zu sichern. «Man muss das ernst nehmen», sagt er. Er fand keine Beweise, aber er meldete seine Beobachtungen dem Amt.
Der Jäger ist der künstliche Feind der Tiere, die keine natürlichen Feinde haben. «Die Jagd ist nie fertig», sagt Schöpfer. Er sagt, er suche ein Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch und Tier. Im Hauptberuf ist er Förster. Wenn er vom «Töten» spricht, gibt er sich zuerst einen Schupf: «Man darf es so sagen.» Manchmal, sagt er, sitze er abends daheim auf dem Sofa und denke: «Heute passt’s, ich muss los.» Er spricht von einer «Passion». Offiziell ist er in Seltisberg der Wildhüter, inoffiziell ein Ordnungshüter. Es ist, als versuche er die Natur, die der Mensch in seinem ewigen Streben verändert, wieder zu ordnen.
Ob es nicht längst zu spät dafür sei?
«Nein», sagt der Jäger Schöpfer. Zumindest in Seltisberg ist der Waschbär erst ein Phantom. Er will bereit sein, bevor es zu spät ist. «Wehret den Anfängen . . .», sagt er. Noch einmal richtet er seine Wärmebildkamera nach oben, in einen verästelten Baum. Dunkel ist es schon lange, jetzt ist die Nacht hereingebrochen. Hinter einigen Scheiben brennt noch Licht, irgendwo bringt ein Mann den Kompost hinaus, dann verschwindet er wieder. Keine Bewegung auf dem Wärmebild. Es ist still.
Aber irgendwo muss er sein.