Meistens sagen einem die Menschen, wer sie sind. Man muss nur genau zuhören.
Ein paar Wochen ist es her, dass Marcel Dettling mit einem Interview für Aufruhr sorgte. Den Klimawandel habe es immer schon gegeben, ja die Erwärmung sei gar gut, bringe Vorteile mit sich. So sei das.
Dettlings Meinung war eigentlich bekannt. Aber seit er das letzte Mal mit solchen Aussagen provoziert hat, sind ein paar Sommer mit wenig Wasser ins Land gegangen. Sommer, in denen auch nicht besonders grüne Bauern und gerade Bergbauern, wie Dettling einer ist, über Wasserknappheit und den Klimawandel klagten. Und Dettling ist nicht mehr ein gewöhnlicher Nationalrat. Er sprach als designierter Präsident der grössten Partei der Schweiz, es war nicht einfach eine Provokation. Es war eine Ansage.
Dettling ist schon lange in der Politik, im Kanton Schwyz kennen ihn alle, viele persönlich. Aber nach dem Interview haben trotzdem viele gerätselt, ob er das nun tatsächlich ernst gemeint hat. Sowieso, wieso wird nun ausgerechnet dieses Bergbuurli Chef der grössten Partei der Schweiz? Ganz schlau sind sie dann doch nicht geworden aus ihm in all den Jahren.
Ein Lokaljournalist aus dem Kanton sagt: «Dettlings Aufstieg ist mir ein Rätsel. Im Kantonsrat war er ein Hinterbänkler, er fiel nie gross auf.»
Die meisten, die ihn persönlich kennen, sagen, er sei ein «Gmögiger». Parteifreunde sagen: «Einer wie Toni Brunner.» Das hat man vor der Wahl gross herumerzählt. Für die Parteibasis ist das ein Versprechen. Brunner war nett und zugänglich und lustig. Er verwandelte die Härte von Christoph Blochers Programm in Witze.
Eine liberale Politikerin aus dem Kanton Schwyz, die ihn seit vielen Jahren kennt, sagt: «Den Toni-Brunner-Vergleich haben wir immer naiv und verharmlosend gefunden. Wir halten Dettling für gefährlich.»
Und Bruno Beeler, Präsident der Mitte Schwyz und Anwalt aus Goldau, sagt: «Dettling hat sich in Bern radikalisiert.»
Ein «gmögiger» Bauer für die ehemalige Bauernpartei, der dann in Bundesbern auf eine extreme Parteilinie gebracht wurde. Das klingt stimmig – aber es ist falsch. Das Radikale brachte Dettling schon mit.
Switzerland first
Ein Freitagabend in Oetwil an der Limmat, einem Dorf in der Siedlungsschlange im Limmattal, auf der anderen Talseite glimmen die Hochhäuser von Spreitenbach, warm gelb leuchtet es in der Gemeindescheune.
Vor der Scheune irrt eine ältere Frau herum. Sie ist aus Zürich angereist, der Stadt, in der «alles kaputt» sei, der Stadt, «die man nicht mehr retten kann», schade sei das, die Links-Grünen hätten es versaut. Aber der Rest der Schweiz lasse sich noch retten. Vielleicht mit ihm, Dettling, für dessen Rede sie angereist sei, sie habe ja das GA. Allein dass es ihn gibt, erfüllt sie mit Hoffnung. «Einer wie Blocher», sagt sie, «finden Sie nicht?»
Dettling hat ein paar A5-Zettel mit Stichworten vorbereitet, aber zuerst geht er durch die Reihen des vollen Saals. Dettling ist ein Mensch ohne Dünkel, der aus Smalltalk Energie zu ziehen scheint. Und so begrüsst er wirklich jeden Gast, sagt zu wirklich jedem ein paar Worte oder fragt nach dem Befinden, gut hundert Mal, wie ein Bauer, der im Stall nach den Kühen schaut.
Dann ruft er zum Volk: «Wir haben euch gehört!»
Eine Woche zuvor hat die Schweiz die 13. AHV-Rente angenommen, die SVP-Spitze war dagegen gewesen, aber von den Parteimitgliedern haben viele Ja gestimmt. Dettling musste sich anhören, dass die Parteileitung die Basis nicht mehr spüre. Nun gilt es, das ursprünglich linke Anliegen umzudeuten.
«Ihr wollt, dass das Geld in der Schweiz bleibt! Wir zuerst! Ein klares Zeichen für die Schweiz! Das sparen wir jetzt bei dem Geld, das sonst ins Ausland fliessen würde.»
«Genau!», ruft eine Frau mit Foulard im Publikum.
«Habt ihr gesehen, was im Kanton Schwyz passiert ist am letzten Wochenende bei den Wahlen?», fragt er den Saal.
Jemand aus dem Publikum ruft: «38 Prozent!» Alle klatschen. «Sogar 38,3 Prozent», korrigiert Dettling. «Den höchsten Wähleranteil aller Zeiten der SVP. Auch im Kanton St. Gallen: 31,5 Prozent.»
Die Halle jubelt, aber das alles ist nur Aufwärmen, Dettling erklimmt nun die nächste Stufe: Am Mittag hatte der Bundesrat erklärt, wie er mit der EU über ein neues Rahmenabkommen verhandeln will.
Dettling erzählt von Ausgleichszahlungen, die die EU verlangt, und von Recht, das übernommen werden muss, «automatisch!», zum Beispiel bei der Landwirtschaft, «Unheil, das auf uns zukommt, sie wollen befehlen, vom Feld bis auf eure Teller, 14 000 Seiten fremdes Recht, das in der Schweiz eingeführt wird, nur noch pflanzliche Ernährung, Zuckersteuer, Fleisch wollen sie verbieten, dann gibt es kein ‹Ghackets mit Hörnli› mehr, vielleicht gibt es dann Hörnli mit Mais!»
Hörnli mit Mais und ein Fleischverbot stehen zwar in keinem Verhandlungsdokument mit der EU, auch die automatische Rechtsübernahme ist ein Schreckgespenst, aber das interessiert hier niemanden. Switzerland first, Stimmung vor Fakten – Dettlings Rede folgt einem amerikanischen Drehbuch.
Vielleicht hat er sich aber auch bereits selbst überzeugt, dass es dann tatsächlich so käme mit der EU. Die grüne Nationalrätin Aline Trede steht Dettling regelmässig in Podien gegenüber, sie sei wohl so etwas wie seine Lieblingsgegnerin, sagt sie, einmal habe er gejauchzt, als er auf sie getroffen sei – es ging um Wohnpolitik –, «‹zum Glück nicht die Badran›. Er nimmt mich wohl nicht ganz für voll.»
In einer Sendung nach den Wahlen, die Grünen hatten gerade verloren und die SVP gewonnen, habe er behauptet, sie von den Grünen wollten ja den Fleischkonsum verbieten. Sie habe ihm erklärt, dass das nicht stimme, er habe es trotzdem wiederholt. Nachdem die Kameras nicht mehr gelaufen seien, habe sie ihn gefragt, wieso er so etwas behaupte, wenn er doch wisse, dass es nicht wahr sei. Er habe gesagt, für ihn stimme es.
Nein, nicht mein Problem
Marcel Dettling stammt aus Oberiberg, einem Dorf in den Bergen, ziemlich in der Mitte der Schweiz, aber er kam vor 43 Jahren in der Fremde zur Welt. In einem Spital in Einsiedeln, Luftlinie zwar nur 12 Kilometer entfernt, aber doch ennet der Bezirksgrenze, und wer das nun eine absurde Definition der Fremde findet, kennt den Kanton Schwyz nicht.
Die Dettlings waren Bauern, fünf Generationen lässt sich das zurückverfolgen, das Land heisst Dettlingsried, und im Dorf trägt Marcel Dettling den Spitznamen «s Franzelis», weil das der Name des Urururgrossvaters war. «Er muss ein bekannter Mann gewesen sein», sagt Dettling.
Dettling ist immer noch Bauer, den Hof führt die meiste Zeit seine Frau, aber das Bauern ist ihm wichtig, die Kühe sind ihm wichtig, die körperliche Arbeit auf dem Hof sei für ihn Ausgleich zum kopflastigen Berichtestudieren in Bern. Und wer anzweifelt, dass er noch Zeit habe, um richtig zu bauern, dem sagt er: «Ich habe klargemacht: Im Sommer stehe ich für Parteianlässe weniger zur Verfügung. Und wenn das nicht klappt, bin ich weg.» Hof, Partei, die Schweiz – so ist die Abstufung auf der Dettlingschen Prioritätenliste.
Das Vaterhaus sieht Dettling noch vom Fenster in der Küche seines eigenen Heimes, das er später gebaut hat, 300 Jahre lang steht es schon da, weiter oben am Hang, er blickt auch auf die Strasse, die hochführt und auf der gerade ein Auto zu sehen ist. «Ah, unsere Hofangestellte», er blickt prüfend auf die Uhr – «Punkt 46, sehr gut, hab gerne den Überblick» – und lacht.
Dettling übernahm den Hof jung, es sei Glück gewesen, sagt er heute, der Vater bekam das Angebot, als Viehrichter in der Schweiz Kühe auszuzeichnen, just als Marcel fast mit der Bauernschule fertig war. Das fügte sich hervorragend, zumal das Bauern immer der Bubentraum war. «Es musste mich nie jemand drängen, um im Stall zu stehen.»
Sowieso habe er viel Glück gehabt im Leben, sagt Dettling, das könne man schon sagen. Und wenn er so von sich erzählt, wirkt er wie ein Mann, der nicht alles erklärt haben muss, wenn es am Ende gut kommt. Wer weiss schon, wie es anders gekommen wäre, wenn . . .
Wenn er zum Beispiel bewusstlos im Fluss gelegen wäre, nachdem er mit dem Velo von der Strasse abkam und das Bord hinabfiel. Sieben Jahre war er da alt. Der Lenker hatte die Zähne hoch hinter die Nase gepresst. Aber Dettling kraxelte aus dem Bach und fuhr fortan regelmässig mit der Mutter in die Stadt zum zahnmedizinischen Zentrum. Was ihm von der Stadt blieb: «Die hohen Häuser, der viele Verkehr – und schon der erste Kontakt mit einer Politesse, die eine Busse gab, weil wir das Auto halt schnell hingestellt hatten. Gab damals schon zu wenig Parkplätze.»
Oder wenn er dort in der Lehre in Rapperswil im Wald zusammengebrochen wäre, als er sich die Finger abschnitt mit der Säge. Passierte aber nicht. Dettling will das nicht als Heldengeschichten erzählen, ganz so glatt lief dann doch nicht alles.
Den Tod der Mutter, als er 12 Jahre alt war, den erwähnt er zuerst nur beiläufig. «Das war auch nicht so lustig. Nicht nur Bilderbuch alles.»
Er ist nicht kalt, er hat es einfach weggeschoben, der jüngere Bruder war noch ein Kleinkind, der Tod der Mutter kam unvorbereitet, zumindest für Marcel und seine drei älteren Schwestern: «Wir kamen vom Stall rein, und es hiess, sie sei tot. Wir konnten nicht Abschied nehmen.» Ab da hiess es Verantwortung übernehmen, zu Hause und im Stall. Und so machte das Dettling immer wieder, wenn das Leben oder eine Kollegin oder ein Kollege fragte.
So landete er auch in der Politik. Aus Zufall und fast widerwillig. Bei Dettling ist das keine Koketterie, das Leben trägt ihn von einer Sache, die es zu erledigen gilt, zur nächsten.
Die Junge SVP im Kanton gründete er mit, weil eine Kollegin ihn an die Gründungsversammlung mitschleppte. Immerhin, dass es die Junge SVP und nicht die Junge CVP war, folgte einer gewissen Logik. Blocher imponierte ihm, er hat das schon oft erzählt, wie ihn der EWR-Kampf politisierte, wie er das Ministrantentum aufgab, weil der Pfarrer sie gegen die SVP habe aufbringen wollen. Auch vom lieben Gott lässt man sich nicht alles sagen.
Dettling kandidierte für den Kantonsrat und liess sich nur für den Nationalrat aufstellen, weil er damit rechnen konnte, dass er nicht gewählt würde. Er liess sich sogar einen Listenplatz nach hinten versetzen. Dann überholte er den Favoriten, und plötzlich stand er da im Wahllokal, sah den Parteifreund, der tatsächlich hätte gewinnen wollen, weinend in der Ecke und überlegte sich, ob er nun bereits sagen konnte, dass er den Sitz in Bern gar nicht unbedingt wollte. «Das hat mich zerrissen.»
Dettling sagte dann doch Ja und ging nach Bern. Er sage eigentlich immer Ja, erklärt er, das sei seine Schwäche. Das ist lustig, denn wenige Politiker sagen öfter und klarer Nein als Dettling. In Interviews ist das oft ein Nein, das mit einem Punkt abgesetzt wird. Kein «Nein, weil». Sondern: Nein, Punkt. Natürlich folgt dann noch eine Erklärung. Man redet ja mit den Medien. Aber Dettlings Nein genügt sich selbst. Dettling lacht dann nicht, sein Nein wirkt hart und bestimmt. Nein, ein zweiter Toni Brunner ist das nicht.
Dettling erklärt sich das mit seinem Schwyzersein. «Ich starte mit einem Nein, von einem Ja muss man mich überzeugen.» In Zeiten, in denen auf Instagram und in Psychotherapiepraxen propagiert wird, dass wir uns alle öfter abgrenzen und häufiger Nein sagen müssten, macht das Dettling zu einem sehr zeitgeistigen Politiker.
So muss man auch seine Aussagen zum Klimawandel verstehen. Wie soll man mit einem Problem umgehen, das zu gross ist für einen allein? Man zieht eine Grenze. Nicht mein Problem. Es gibt ja momentan auch wirklich genug Probleme auf der Welt. Und schaut euch doch mal um, wie schön es hier ist, die Idylle, da die Kühe am Hang, dort geht die Sonne unter und taucht das Dettlingsried in ein sanftes Pink.
Marcel Dettling mag es gerne ordentlich. Auch seine Frau mag es gerne ordentlich. Bei den Dettlings zu Hause ist es so ordentlich, dass man sich kurz fragt, ob sie tatsächlich hier leben oder ob man gerade eine Ferienwohnung betreten hat.
Dettling sagt, seine Ordnungsliebe sei auch der Grund, wieso er nicht Biobauer sei. Es würde sich zwar lohnen umzusteigen, behauptet Dettling. «Finanziell gesehen», fügt er hinzu. Aber er habe gerne «Ordnung auf dem Land draussen». Er möge Unkraut nicht. Er schätze, dass es Pflanzenschutzmittel gebe. «Wenn ich durchs Land fahre und das Unkraut sehe, dann graust es mir, weil ich mir vorstelle, wie das ‹absaamet›, und im nächsten Jahr ist dann noch mehr Unkraut, und wir haben gar keine Nutzpflanzen mehr.»
Dettling will kein Unkraut. Also sagt er Nein zum Biolandbau.
Oetwil, Mallorca, Afrika
Ganz am Ende seiner Rede in Oetwil an der Limmat beantwortet Marcel Dettling Fragen aus dem Publikum. Er hat zuvor die Problemanalyse vertieft, ist von der EU zu unkontrollierter Einwanderung, zu Grenzen, die es wieder zu schützen gilt, zu kriminellen Asylsuchenden gehüpft. Nun wollen die meisten, die ihre Hände in die Höhe strecken, einfach ihre Meinung kundtun. Aber der junge Mann, der sich zuallerletzt meldet, scheint ehrlich verwirrt zu sein: «Wieso müssen wir überhaupt Flüchtlinge aufnehmen?», fragt er. Flüchtlinge, das seien doch Leute, die aus ihrem Heimatland ins Nachbarland geflohen seien. Und das gelte ja für all die Leute, die aus Afrika zu uns kämen, nicht.
Ganz vorne vor der Bühne senken ein SVP-Kantonsrat und ein SVP-Stadtpräsident ihre Blicke auf die Tischplatte, aber Dettling schaut den Mann wach an. Sowieso gilt: «Was wir hier drinnen sagen, würden wir auch draussen sagen», und so gibt er dem jungen Mann zuerst einmal recht. Er spreche etwas Wichtiges an, dass nämlich das Asylrecht aus einer anderen Zeit stamme, aus der Zeit der Weltkriege, als tatsächlich die Flüchtlinge ins Nachbarland geflohen seien. Das sei heute anders. Sowieso sei vieles anders, fährt Dettling fort. «Die in Afrika reproduzieren sich in zwölf Tagen um eine Million, die haben heute schon Hunger und nichts zum Leben, eine Million in zwölf Tagen! Und die wissen genau, wo sie hinwollen. Als wir das Asylrecht gründeten, war das eine ganz andere Ausgangslage, das war für etwas anderes da: om de Nochbuure z hälfe. Für das andere sind wir viel zu klein.»
Da raunt es im Saal, und es klatscht, Dettling hat den Bogen geschlossen. Später wird er sagen, dass der junge Mann eine gute Frage gestellt habe. Das habe ihm die Gelegenheit gegeben, etwas Grundsätzliches zu sagen. Was das ist, wird nicht ganz klar. Schliesslich erklärt er, er wolle ja das Asylrecht auch nicht ganz abschaffen, aber wozu diente dann seine Herleitung mit Afrika?
Vielleicht hat Dettling da auf der Bühne auch einfach die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Und wie die Leute lachten! Erleichtert, dass ihnen jemand bestätigt, was sie schon befürchtet hatten, es läuft tatsächlich alles so schlecht mit den Flüchtlingen, immerhin das haben sie korrekt verstanden.
Wirklich im Ausland war Marcel Dettling nie. «Ayia Napa und Mallorca», sagt er, nach Reisen oder Ferien im Ausland gefragt. «Nur Partyinseln, in der Jugend.» Die lokale Kultur kennenlernen, das sei nie im Vordergrund gestanden. Und das findet er heute auch kein Defizit.
Die Welt kennt er stattdessen aus der Tagesschau. Und die Welt ist immer etwa gleich. «Seit ich fünfzehn bin, geben sie sich in Israel auf den Kopf, führt in Afrika irgendein Land Krieg, der Nahe Osten ist ein Pulverfass, und die Türken haben immer irgendwie ihre Finger im Spiel.» Dettlings Fazit: «Wo viele Kulturen aufeinandertreffen, gibt es immer Spannungen, leider nichts Neues.»
Arth-Goldau, Flugblätter und junge Männer
Vor zwei Wochen stand Marcel Dettling in Arth-Goldau auf einer Wiese unter einem Zelt, es war bereits Nacht, es regnete, und Dettling wurde von einer grellen Lampe beleuchtet. Er sprach da zu «besorgten Bürgern», die sich gegen ein Bundesasylzentrum in ihrem Dorf wehrten. Eigentlich hatte die Kantonsregierung von Schwyz das Projekt erst im April vorstellen wollen. Aber irgendjemand aus der Regierung muss der Lokalzeitung etwas gesteckt haben – ausgerechnet vor den kantonalen Wahlen, so dass es zum Wahlkampfthema wurde. Dass daran eigentlich nur die SVP ein Interesse gehabt haben kann, darüber ist man sich im Kanton einig. «Besser kann man es nicht ‹preichen›», sagt Bruno Beeler, Anwalt und Politiker der Mitte. «Das brachte ihnen sicher noch einen, zwei Sitze, weil sie so noch den letzten Fremdenhasser hinter dem Ofen hervorgeholt haben.»
Die SVP weist so eine Unterstellung natürlich von sich. Sie stritt auch empört ab, dass sie mit dem anonymen Flugblatt etwas zu tun haben könnte, das alle bisherigen Regierungsräte denunzierte, weil sie überhaupt an ein Bundesasylzentrum gedacht hätten. Dass anonyme Flugblätter immer wieder einmal bei SVP-nahen Themen im Kanton Schwyz auftauchen und Stimmung machen – ein unerklärlicher, aber auch willkommener Zufall.
So jüngst auch in Dettlings eigener Gemeinde, wo über eine Solaranlage am Berg abgestimmt wurde. Dettling war an der ersten von drei Informationsveranstaltungen gewesen und hatte danach für sich entschieden, dass dieses Projekt im Gebiet Hoch-Ybrig seine Unterstützung nicht verdiente. Vorpreschen und alle beeinflussen habe er aber nicht wollen, und so hielt er sich zurück, liess die Meinungsbildung laufen, tauchte an den zwei weiteren Informationsveranstaltungen gar nicht mehr auf. Dass dann trotzdem jeder wusste, was er dachte, dafür hätte es in Oberiberg nicht einmal ein Flugblatt gebraucht – aber es machte dann trotzdem eines die Runde, auf dem Dettlings ablehnende Haltung kundgetan wurde. Einen Absender hatte das Flugblatt natürlich nicht.
Im Ybrig, ja im Kanton Schwyz ist Wahlkampf auch tatsächlich noch Kampf. Die Mitte etwa hatte verzweifelt versucht, einen Kandidaten zu finden, der sich in Dettlings Nachbardorf, der SVP-Hochburg Unteriberg, aufstellen lässt. Kurz vor den Wahlen zog sich der Kandidat dann eingeschüchtert zurück. Es sei ihm bedeutet worden, seine Kandidatur würde negative Folgen haben.
Noch kürzer als Kandidaturen leben im Ybrig nur Wahlplakate «fremder» Parteien. «Ein Plakat von uns hängt in Dettlings Dorf nur eine Stunde», sagt Bruno Beeler. «Dort, wo die SVPler an der Macht sind, wächst kein Gras mehr. Antidemokraten. Die können tun wie die Säue.»
Beeler ist mit seiner Meinung nicht allein. Nur getrauen sich viele nicht zu reden. Umgekehrt erzählt Dettling, wie nach einem Besuch am Lehrerseminar Schüler zu ihm kämen und ihm anvertrauten, dass sie es gar nicht wagten, ihre Meinung zu sagen. Ganz viel Unfreiheit im Kanton, der den ultimativen Freiheitskampf für sich reklamiert.
Beeler sagt, niemand sage öfter Nein als die Schwyzer. Es sei ein kategorisches Nein, eine antizipierte Abwehrreaktion gegen alles, was von draussen komme. Und draussen, das sei Bern. Das Welschland gebe es gar nicht.
Beeler erklärt das mit dem Sonderbund. Vor der Gründung der modernen Schweiz war der Kanton Schwyz ein stolzer Kanton, der an der Tagsatzung viel Einfluss besass. Die Macht gründete auch auf den Söldnerarmeen, die die Schwyzer Herren zusammenstellten und in die Fremde schickten. «Das Reservoir an jungen Männern, die nichts zu tun hatten, weil es halt nur eine begrenzte Anzahl Höfe zu übernehmen gab, war gross. Also gingen sie als Soldaten in die Fremde und wüteten dort.» Dann, mit der Niederlage im Sonderbund, versank Schwyz in der Bedeutungslosigkeit. «Die Volksseele wütet immer noch», sagt Beeler. «Und im Ybrig wütet sie am meisten.»
Das wirkt wie aus der Zeit gefallen. Aber wer mit zehn Schwyzern redet, bekommt acht Geschichtslektionen erteilt. Dettling referiert vom March-Streit, bei dem das Kloster Einsiedeln das Land zugesprochen erhielt, das die Unteriberger und Oberiberger urbar gemacht hatten. Auch diese Geschichte liegt nur ein paar Jahrhunderte zurück.
Kanton, Bezirk, Dorf, Familie, das sind mehr als Organisationsformen. Es sind Glaubensbekenntnisse.
So auch das Parteibuch. Ein FDP-Politiker klagt, die SVP könnte einen Müllsack auf die Liste setzen, und er würde gewählt. Erreicht hat das die Schwyzer SVP mit einer noch radikaleren Fokussierung. «Ausser Asylanten gibt es kein Thema mehr», sagt Beeler. «Was jemand geleistet hat, spielt keine Rolle. Hauptsache, er ist gegen das Fremde.» In Bern fürchten sie, dass Dettling das Schwyzer Modell nun in die Schweiz exportiert. Was das heisst, fasst Beeler so zusammen: «Im persönlichen Umgang ganz ‹gmögig›, aber politisch muss man auf der Hut sein. Am Schluss machen sie noch einen ‹Schlungg›, und man liegt im Dreck. Sie schauen nur für sich.» Ein Lokaljournalist, der über die Region vierzig Jahre lang berichtet hat, sagt: «Dettling hat ein Stück weit Blocher-Art in sich.»
Dass Dettling sowieso nur von Blocher gesteuert sei, ist einer der fieseren Vorwürfe, die er sich so anhören muss. Es lässt ihn zwar kalt. Man kann es ja auch nicht widerlegen. Wer es als böses Kompliment verpackt, sagt: «Gut geschult.» Als ob die Vorstellung, dass Dettling selbst denken würde, abwegig wäre.
Wer Präsident der SVP sei, sei gar nicht so entscheidend, heisst es dann. Die SVP sei ein Apparat, der Präsident ein Maskottchen. Aber Dettling hat den letzten Wahlkampf geleitet. Und so mächtig dieser Apparat auch ist, so viele waren dann doch nicht bereit, ihre Freizeit für den politischen Freiheitskampf zu opfern. Dettling fasst zusammen: «Aeschi macht schon viel, Martullo sagte ab, Matter sagte ab, und Strupler hat eine junge Familie.»
Und so schwappte das Leben Marcel Dettling in die nächste Sache, die es zu erledigen gilt. Nur dass es dieses Mal um alles geht. Dreissig Jahre nach dem EWR gilt es wieder die freie Schweiz vor fremden Vögten zu verteidigen. Vielleicht ist das der zweite Bubentraum des Marcel Dettling, der weiss: Jeder Traum kann unverhofft zum Albtraum werden. «Wenn die SVP den Kampf gegen das Rahmenabkommen verliert . . .» – Dettling vollendet den Satz langsam, Wort für Wort betonend, wie ein Märchenerzähler, der Spannung aufbauen will: «. . . dann hab ich das Erbe Blochers zerstört.» Dann kichert er, ein ehrlicher Moment der Selbstironie und kein einstudierter Bühnenwitz.
Dettling hat bis jetzt nie verloren. Dass nun ein Bergbauer als Feldherr die grösste Partei der Schweiz in ihre «Schlacht des Jahrhunderts» gegen Brüssel und die EU führen soll, könnte man als Schwäche lesen. Aber das wäre geschichtsvergessen und ein Fehler. Ein Schwyzer Mann gegen fremde Vögte – einen viel stimmigeren Anführer hätte sich die SVP nicht aussuchen können.