Der norwegische Starautor schreibt, wie ihm die Gedanken durch den Kopf jagen. Trotzdem reisst sein jüngster Künstlerroman den Leser mit. Vielleicht weil er es schafft, eine Verbindung zwischen Pop und Bildung, Zeitgeist und existenziellen Fragen herzustellen.
Auf einer kleinen norwegischen Insel bereitet sich ein Mann im besten Alter auf seinen Selbstmord vor. Den Grund erfahren wir erst am Ende. Es ist ein tragischer Unfall, der dem Mann vollends die Fragwürdigkeit seines Daseins vor Augen führt. Bevor er sich aber das Leben nimmt, will er es aufschreiben – als Rechenschaft und Busse in einem: «Ich schreibe (. . .) mich selbst», sagt er. Und blickt zurück auf 1985. «Die Schule der Nacht» von Karl Ove Knausgård ist eine klassische Rahmengeschichte.
Der Lebensmüde auf der Insel ist Kristian Hadeland. 1985 ist er zwanzig, studiert an einer Kunstakademie in London Fotografie und hat mit der Familie in Norwegen gebrochen. Von Anfang an weiss man, dass Hadeland für Kompromisse nicht zu haben ist. Der junge Mann zieht sein Ding durch, wie man so sagt, er ist ehrgeizig, selbstgerecht und rücksichtslos. Und mit einem Selbstbewusstsein gesegnet, das oft wie Selbstüberschätzung aussieht.
Der diabolische Hans
Als Künstler sieht er seine «Zukunft im Monumentalen» (da denkt man an Anselm Kiefer, mit dem sich Knausgård in seiner essayistischen Monografie «Der Wald und der Fluss» auseinandergesetzt hat). Nichts hasst Hadeland so sehr wie Abhängigkeit, weshalb er weder die Kindheit mag, weil man da von Erwachsenen abhängig ist, noch eine feste Beziehung eingehen will. Radikale «Teilnahmslosigkeit» ist die Lösung, um wirklich frei zu sein.
Es gibt für ihn nur eine Beziehung, aus der er sich nicht lösen kann; sie ist nicht sexueller, sondern intellektueller und psychologischer Natur. Und zwar zu dem mehr und mehr diabolisch erscheinenden Hans, einem zehn Jahre älteren Niederländer, der mit Biologie und Technik experimentiert. Dieser Hans wird ihn bis zum bitteren Ende begleiten (selbst dann, wenn er nicht anwesend ist) und ihn auf seine Schwächen aufmerksam machen und darauf, dass Erfolge und erfüllte Wünsche ihren Preis haben.
Durch Hans lernt Hadeland die Theaterregisseurin Vivian kennen, die mit ihrer Truppe Christopher Marlowes «Doktor Faustus» inszeniert. Das ist fast ein wenig dick aufgetragen, denn spätestens jetzt muss uns klar sein, dass der Niederländer Hans ein Mephisto des 20. Jahrhunderts ist.
Im Gegensatz zu Goethe gut zweihundert Jahre später glaubte Marlowe an den Teufel. Das tut Hadeland auch, insofern er wie Marlowe den Teufel natürlich als das Böse sieht, aber mehr noch als denjenigen, der Verlust und Sehnsucht kennt. Einen gefallenen Engel. Hans, der niederländische Mephisto, überzeugt ihn sogar, dass der Schatten auf Daguerres berühmtem Foto «Boulevard du Temple» nicht ein Passant sei, der sich die Schuhe putzen lasse, sondern – der Teufel.
Kristian, eingebildet, humorlos, schnell gekränkt, gemein, würde für den Erfolg alles tun. Auch seine Seele verkaufen? Er ist auf der Suche nach dem Übernatürlichen und dem Unterirdischen, dem «Tieferen».
Bleiben wir als Leser deshalb am Ball? Weil Knausgård wie sein Held das «Monumentale» will, eine epische Totalität? Und weil sein Stil eher nicht monumental ist, er schreibt ja wie gesprochen, wie einem so die Gedanken durch den Kopf jagen.
Auch sein Hadeland denkt andauernd. Und schlingert und stolpert und schleicht und tappt dabei durchs Leben. Seine Gedanken können absolut ungewöhnlich sein, aber manchmal auch nur platt. Er schweift ab, er schweift weiter: mit jedem Bild, das er vor sich sieht (im Kopf oder in der Wirklichkeit). Trotzdem reisst es einen mit, vielleicht weil Knausgård es tatsächlich schafft, eine Verbindung zwischen Pop und Bildung herzustellen, zwischen Zeitgeist und existenziellen Fragen.
Das Leben geht weiter
Knausgård ist ein Ewigkeitsautor. Nicht nur, weil er gern über Leben und Tod und Ewigkeit schreibt, sondern weil seine Geschichten ewig dauern. Mit «Die Schule der Nacht» haben wir den vierten Band seiner «Morgenstern»-Reihe vor uns – und es soll mindestens noch ein fünfter kommen.
Damit hebt Knausgård literarische Regeln aus den Angeln, zum Beispiel, dass eine Geschichte gerne einen Anfang und einen Schluss haben darf. Er findet einfach kein Ende. Da ist es überraschend, dass der neue Roman so abgeschlossen wirkt. Und übrigens Knausgårds Projekt «Min Kamp» am ähnlichsten ist – auch wenn der Autor in einer Vorbemerkung beteuert, sein Held habe «keine Wurzeln in der Wirklichkeit».
Aber letztlich bleibt auch «Die Schule der Nacht» offen. Denn Hadeland täuscht zunächst seinen Selbstmord nur vor, um in Ruhe seine Lebensbeichte schreiben zu können. Die eigentliche Tat bleibt aus, weil der Preis, Erfolge gehabt zu haben, lautet, dass Wünsche nicht mehr erfüllt werden. Auch nicht der Todeswunsch. Also geht das Leben, wie Knausgårds Romane, erst einmal weiter, egal, was passiert.
Und wenn dann der Tod doch noch kommt? Ist das Leben dann zu Ende? Oder geht es irgendwie doch weiter? Damit kommt die Religion ins Spiel. Schon in «Der Morgenstern», dem ersten Band des Zyklus (dt. 2022), spielte der Glaube eine grosse Rolle. Zwar kann man Knausgård nicht als religiösen Autor bezeichnen, aber als einen, der die Religion ernst nimmt.
Dazu gehört auch, den Unterschied zwischen «glauben» und «wissen» zu klären. Dabei kommt man oft in die verzwickte Lage, dass uns das, was wir zu wissen glauben, gar nicht klar ist. Oder dass wir vor dem, was wir zwar ahnen, aber nicht wissen können, die Augen verschliessen. Es ist dies das grosse Thema von Karl Ove Knausgård.
Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand-Verlag, München 2025. 670 S., Fr. 39.90.