Am «Forum des 100» zelebriert die Westschweiz Nabelschau: Pierre-Yves Maillard plant sein letztes Gefecht, Micheline Calmy-Rey lacht über Russlands Aussenminister – und Beat Jans flucht zuweilen auf Französisch.
Was nützt die Romandie? Gute Frage. Oder doch nicht?
Zumindest ein Redner wollte gar nicht erst auf das diesjährige Motto des «Forum des 100» eingehen. Die 20. Ausgabe der Westschweizer Nabelschau, organisiert von der Genfer Zeitung «Le Temps», neigte sich dem Ende zu, da haute der Zürcher Verwaltungsrat Reto Zenhäusern vor mehr als tausend Gästen mächtig auf die Pauke: «Was nützt die Romandie? – Was für eine bescheuerte Frage!»
Für Zenhäusern, einen äusserst selbstbewussten Gewinnertypen, war die Sache klar: Das Motto sei eine Verliererfrage, also typisch welsch. In der Deutschschweiz käme niemand auf solche Gedanken. «Fragt sich etwa der Kanton Zürich, ob es ihn braucht? Fuck it!»
Reto Zenhäusern ist eine Figur des Waadtländer Satirikers Vincent Kucholl. Damit ist schon einiges gesagt über den Ton am Donnerstag im Swiss Tech Convention Center auf dem EPFL-Campus – und vielleicht auch über die Romandie an und für sich: Man lacht gern, auch über sich selbst. Aber noch lieber über die grossen Nachbarn, in und ausserhalb der Schweiz. Auch wenn es um durchaus ernsthafte Dinge geht.
Die Romandie produziert überdurchschnittlich viel Strom
«Wir produzieren mehr Wein als Elektrizität», sagte der Chef von Romande Energie, Christian Petit, an einem der vielen thematischen Podien – um dann hinzuzufügen, dass die Westschweiz trotzdem überdurchschnittlich viel zur Schweizer Stromproduktion beitrage, nämlich rund ein Drittel, vor allem dank der Wasserkraft im Wallis. Zudem stelle allein die Waadt zwanzig Prozent des landesweiten Potenzials für Solarenergie.
Mehrere Redner beantworteten die Frage nach dem Nutzen der Romandie mit handfesten Fakten: Die einzige Raffinerie des Landes im Kanton Neuenburg decke 25 Prozent des Schweizer Bedarfs. Die Region Genfersee trage ein Drittel zum Schweizer Wirtschaftswachstum bei. Die Genfer Banken, die Uhrmacherbranche, die Rohstoffhändler, all die internationalen Organisationen!
Andere Rednerinnen betonten weiche Faktoren, die oft auf politisch-kulturelle Unterschiede mit der Deutschschweiz hinausliefen. Die Romandie sei «ein bisschen sozialer, habe richtige Streiks und sorge bei Wahlen zumindest für etwas Spannung», sagte die Genfer Regierungspräsidentin Nathalie Fontanet augenzwinkernd.
Gar nicht erst rechtfertigten wollte sich der Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Pierre-Yves Maillard. Die Romandie – oder «Suisse romande», wie man auf Französisch lieber sagt – sei vielleicht zu nichts gut, sagte er. «Aber das ist nicht so schlimm. Ich weiss nicht, ob eine Region einen Nutzen haben muss. Uns gibt es, wir produzieren, wir tragen unseren Teil zur Wirtschaft und Kultur der Schweiz bei.» Fertig.
Diese Nutzlosigkeit hatte dieser Tage auch ein lesenswerter Essay in «Le Temps» zelebriert. Deren Deutschschweiz-Korrespondent erinnerte an das berühmte «Weltwoche»-Cover von 2012, das die Romands als die Griechen der Schweiz bezeichnete. Dann griff er einen Ausspruch von Aristoteles auf, wonach im Leben drei Dinge erstrebenswert seien: das Nützliche, das Schöne, das Angenehme.
Für Erstgenanntes stehe die Deutschschweiz, hiess es sinngemäss in dem Artikel, für die anderen beiden Dinge die Westschweiz. Also für vermeintlich Unnützes wie Ästhetik, Toleranz, Selbstironie und Lebenslust. Und ja, schrieb «Le Temps», vielleicht stehe die Romandie auch für ihre eigene glorreiche Bedeutungslosigkeit oder gar für die Belanglosigkeit aller Existenz. Schliesslich seien wir ja alle endlich.
Einig jedenfalls schienen sich die Redner darin, dass es ohne die Westschweiz – Nützlichkeit hin oder her – nicht ginge. «Wenn man aus dem Puzzle das grosse Teil der Romandie herausnimmt, existiert die Schweiz nicht mehr», sagte die Waadtländer Regierungspräsidentin Luisier. Und dann gäbe es weder Fondue noch Raclette noch Christian Constantin, pflichtete ihr der Walliser Regierungsrat Franz Ruppen bei.
Maillard und Jans verraten Persönliches
Der lockere Ton des Forums trug dazu bei, dass manche Redner auf der riesigen Bühne des Konferenzzentrums zuweilen so vertraut plauderten wie mit Freunden beim Apéro. Pierre-Yves Maillard, der seit 2019 Gewerkschaftschef ist, nannte es seine wohl «letzte Aufgabe», erneut eine Volksinitiative für eine Einheitskrankenkasse zu lancieren. Die Idee wurde schon mehrfach abgelehnt, doch Maillard denkt, dass das Stimmvolk angesichts der steigenden Prämienbelastung eines Tages anders entscheiden könnte.
Der Basler Bundesrat Beat Jans brachte den Saal mit einer (selbst)ironischen Rede zum Lachen. Das Französisch fliesse bei ihm nicht so gut wie der Weisswein, sagte Jans, aber immerhin genauso schlecht wie das Deutsch der Anwesenden. Trotzdem fluche er manchmal auf Französisch: Wenn Abstimmungen vor allem wegen der Deutschschweiz einmal mehr nicht in seinem Sinne verlaufen seien, etwa beim Nein zum EWR-Beitritt 1992.
Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey bedauerte, dass Bern die Bedeutung des internationalen Genf nicht genügend bewusst sei. Frankreichs Präsident Macron hole systematisch internationale Treffen nach Paris und schwäche damit Genf; China und Russland infiltrierten die strategisch wichtigen technischen Organisationen am Genfersee. Aber in der Schweiz «haben manche Lust, grosse internationale Treffen auf dem Bürgenstock auszurichten», sagte Calmy-Rey in Anspielung auf die Ukraine-Konferenz im Juni.
Calmy-Rey pries auch die Neutralität als essenziell für den Zusammenhalt des Landes. Auf den Hinweis des Moderators, dass der russische Aussenminister Sergei Lawrow der Schweiz angesichts ihrer Sanktionen im Zuge des Ukraine-Kriegs den neutralen Status abspricht, reagierte Calmy-Rey cool: Sie habe zehn Jahre lang mit Lawrow zusammengearbeitet, der kenne genau die Bedeutung der Schweizer Neutralität. «Il se fout de nos gueules», sagte sie, was man jugendfrei übersetzen kann mit: «Der will uns veräppeln.»
Sosehr die – überschaubare – welsche Elite (Copyright: Reto Zenhäusern) auch die Besonderheiten der Romandie betonte, von penetrantem Stolz oder gar Chauvinismus war keine Spur. Vielmehr von einer gewissen Nachdenklichkeit.
Die Romandie soll aufwachen
Der Journalist Alain Jeannet, ein Mitgründer des «Forum des 100», verwies auf eine (nichtrepräsentative) Umfrage für die Konferenz, wonach die Idee eines Grosskantons Romandie heute noch weniger Befürworter hat als vor 15 Jahren. Es gebe eine gewisse Müdigkeit gegenüber der «idée romande», sagte er.
Jeannet erinnerte sich an den Enthusiasmus in den ersten Jahren des Forums ab 2005. Damals habe er mit mehreren Westschweizer Politikern über die Idee eines «Forums der nationalen Kohäsion» gesprochen. Die Antwort habe gelautet, auch dies jugendfrei übersetzt: Was brauchen wir die Deutschschweizer!
Dabei sei etwa die Uhrenbranche von einem Libanesen aus Zürich mithilfe von Deutschschweizer Financiers gerettet worden, sagte Jeannet in Anspielung auf Nicolas Hayek. «Kein Rappen kam von einem Romand!» Jeannet schloss: Wenn es der Romandie weiter gut gehen solle, dann müsse sie aufwachen.
Und das passte prima zum Schlusswort des Zürcher Verwaltungsrats Zenhäusern. «Was Ihnen fehlt, ist das Selbstbewusstsein!», rief er in den Saal. Wenn man das habe, frage man sich nicht, zu was man gut sei. «Sondern zu was die anderen gut sind!»