Seidensöckchen sind schön und gut, aber einem Strumpf entkommt man derzeit nicht: dem unspektakulären, kniehohen Klassiker aus Nylon. Es ist die Wiederentdeckung einer längst überholten Büromode.
Es geschieht nicht oft, dass ein Accessoire, das plötzlich an einer kritischen Masse von Fashion-Week-Gästen und Influencern auftaucht, bezahlbar und einfach erhältlich ist. Für gewöhnlich ist es eine neue Designertasche mit einem Preisschild in den mittleren Eintausendern oder ein absichtlich leicht hässlicher, längst ausverkaufter Schuh. Doch die Ausnahme bestätigt bekanntlich die Regel. Und seit letztem Sommer umschlingt sie verdächtig viele Unterschenkel.
Die Ausnahme besteht aus halbtransparentem Nylon und endet mit einem breiten, elastischen Bund unter dem Knie. Sie ist ein Strumpf, den man sonst eher mit Grossmüttern, Schulmädchen und Powerfrauen aus den achtziger Jahren verbindet. Sie stammt aus dem Drogeriemarkt und kostet ein paar Franken oder wird, wenn man es hochwertiger oder mit Kompression möchte, im Warenhaus gegen weniger als eine Fünfzigernote über den Tresen geschoben.
Mehr, als man ihnen ansieht
An den Fashion Weeks in New York, London, Mailand und Paris im vergangenen Herbst wurden Kniestrümpfe aus Nylon zu kurzen Faltenröcken und noch kürzeren Shorts getragen. Sie steckten in spitzen Pumps und runden Ballerinas. Auf dem Laufsteg, wo die Mode für Frühjahr/Sommer 2025 präsentiert wurde, zeigte Simone Rocha sie doppelt übereinandergeschichtet. Kim Jones knautschte sie bei Fendi zusammen und liess sie mit silbernen Blumen besticken. Bei der Show des Labels Iceberg waren die Beine der Models in bunte Exemplare gehüllt. Erst genaues Hinschauen entlarvte die Trickserei: Die vermeintlichen Kniestrümpfe waren mit Make-up aufgetragen worden.
Nylonstrümpfe hatten schon immer ein Faible für Trickserei. Sie standen stets für mehr, als man ihnen ansah. Nach ihrer Erfindung ab 1937 durch die amerikanische Chemiefirma DuPont – als Testprodukt für Nylon, die weltweit erste Kunstfaser – ersetzten sie bald die davor gängigen Strümpfe aus Seide: Deren Rohmaterial kam damals vorwiegend aus Japan und damit von einem feindlichen Land. Obwohl die Exemplare aus Nylon zu Beginn noch teurer waren als Seide, wurden sie schon in den ersten Tagen millionenfach verkauft. Sie verkörperten zugleich technischen Fortschritt und amerikanischen Patriotismus.
Von Business zu Casual
Frauen traten ausserdem zunehmend ins Erwerbsleben ein, und ihre nackten Beine waren dort nicht gerne gesehen. Sobald man einen Rock trug, schrieben viele Unternehmen hautfarbene Nylonstrümpfe vor. Innovationen wie der elastische Bund um Knie oder Hüfte machten das Tragen mit den fortschreitenden Jahrzehnten bequemer. Doch wenn es heiss war und sich im Sommer der Schweiss am synthetischen Material staute, half das nicht.
Erst ab den neunziger Jahren lockerten sich professionelle Dresscodes allmählich. Die Tech-Konzerne der nuller Jahre mit ihren rebellischen modischen Vorlieben beschleunigten die Entwicklung. Immer mehr Firmen verzichteten darauf, die Kleidung ihrer Angestellten zu regulieren, zumindest schriftlich. Sogar Schweizer Banken setzen heute vermehrt auf Eigenverantwortung. Nur in der Luft hat sich das kaum verändert. Müssen Flight Attendants der Swiss seit 2024 keinen Lippenstift mehr tragen, sind Strümpfe für sie weiterhin obligatorisch.
«Ich glaube, es gibt eine bestimmte Generation von Frauen, die das Gefühl haben, dass sie nicht richtig gekleidet sind, wenn sie sie nicht tragen», sagte die Modejournalistin Robin Givhan 2015 gegenüber dem «Smithsonian Magazine». Doch an formellen Anlässen seien Nylonstrümpfe längst nicht mehr die Norm. Sie seien darum «demselben Schicksal geweiht wie einst der Dodo».
Schulmädchen oder Oma-Chic?
Trotzdem werden Kniestrümpfe aus Nylon immer wieder aus der Versenkung geholt, oft von jüngeren Generationen, die die Beinkleider höchstens von ihren Müttern kennen. Jeden 31. Oktober etwa geschieht das, wenn unweigerlich jemand als Cher aus «Clueless» an der Halloweenparty auftaucht: Die Diva im High-School-Alter trägt im Film aus 1995 mehrere halbtransparente Exemplare in Weiss, am liebsten zu Minirock und Mary-Janes. Aber auch auf dem Laufsteg wird seit Jahren gerne darauf zurückgegriffen: 2016 waren hautfarbene Kniestrümpfe Teil von Alessandro Micheles eklektischer neuer Vision für Gucci, die bald als «Oma-Chic» beschrieben wurde und lange den Ton angab.
Drei Jahre später zierte das dreieckige Prada-Logo Kniestrümpfe aus Nylon. Kombiniert waren die Strümpfe zu adretten Kleidern mit buntem Batikmuster. Korrekt zu kreativ also, geregelt zu unberechenbar: Sie wolle «einen Wunsch nach Freiheit und Befreiung und Phantasie thematisieren», sagte Miuccia Prada damals über ihre Frühjahr-/Sommerkollektion 2019, und «andererseits den extremen Konservatismus, der kommt».
Spiel mit dem Konservativen
Die Prada-Strümpfe lösten nur einen kurzlebigen Trend aus, was weniger am Trend hin zur Nachhaltigkeit, als mehr daran gelegen haben könnte, dass sie mehr kosteten als so mancher Schuh. Doch die Assoziation mit dem Konservativen hat sich gehalten und wird heute wieder zur stilistischen Spielwiese, indem ehemalige Vorschriften ironisiert werden. Besonders oft werden die kniehohen Nylonstrümpfe zu Klassikern der Büromode getragen – Bleistift- oder Faltenjupes, Pumps oder Loafers, Hemden oder Poloshirts. Nicht adrett versteckt, sondern möglichst sichtbar.
Und natürlich werden sie auch zum Blazer getragen, der in der letzten Dekade für Frauen zum Kleidungsstück schlechthin geworden ist. Ob im Geschäftsalltag oder zur Verabredung mit Freundinnen, ob oversized oder tailliert, entkommen kann man ihm nicht. Seine derzeitige Beliebtheit verkörpert eine Wahrheit, die auch dem Nylon-Kniestrumpf zugutekommen könnte: Wir tun Dinge nun mal lieber, wenn sie uns nicht vorgeschrieben werden.