Niemand müsse Sport treiben, um die Gesundheit zu erhalten, sagt der Mediziner. Viel wichtiger sei es, sich richtig zu bewegen.
Herr Neumann, stellen wir uns folgenden Fall vor: Ein Freizeitsportler geht montags joggen, macht dienstags Krafttraining, spielt am Donnerstag Fussball und geht am Wochenende rudern. Was macht dieser Mann falsch?
So, wie Sie es schildern, scheint dieser Mensch mit Freude und Genuss bei der Sache zu sein. Und wenn ich es von dieser Seite her betrachte, würde ich sagen: Er macht zunächst einmal nichts falsch. Und zwar so lange, wie seine Selbstwahrnehmung und sein Körperempfinden ihm signalisieren, dass er davon profitiert – währenddessen, aber auch in den Stunden und vielleicht am Tag danach. Dann ist so weit alles in Ordnung. Es ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, Sport zu treiben.
In dieser Aussage schwingt bereits ein Einwand mit.
Ja, es darf halt nicht zum Zwang werden. Man kann Sport mit ganz unterschiedlichen Zielen betreiben. Der eine will den Puls hochtreiben, der andere geht der sozialen Kontakte wegen zum Sport, andere wollen mentalen Stress abbauen. Das sind alles legitime Ziele. Aber die meisten betreiben Sport nicht aus diesen Gründen, sondern unter Gesundheitsaspekten. Sie sagen: «Ich will gesund sein. Ich will fit sein. Ich möchte im Alter keine Gebrechen bekommen.» Und das hat sich die Fitnessbranche geschickt zunutze gemacht.
Ihr Buch trägt den Titel: «Die Fitness-Lüge». Das ist eine starke Aussage.
Ja, denn wenn es um die Gesundheit geht, vor allem um Schmerzfreiheit und Beweglichkeit, muss niemand Sport machen. Bewegung dagegen ist elementar, sie ist unbedingt notwendig. Aber auch hier ist Qualität viel entscheidender als Quantität. Es geht darum, dass wir uns besser bewegen.
Da würden viele Ihrer Kollegen Einwände erheben.
Es ist wichtig, dass man seine Ziele definiert. Für die Gesundheit sollte man sich fragen: Wie möchte ich im Alter in Schuss sein, wie möchte ich mich bewegen können? Was möchte ich mit 80 Jahren noch machen können? Möchte ich dann noch mit den Enkeln in der tiefen Hocke spielen können? Oder Einkäufe die Treppen hochtragen? Oder möchte ich auf hohe Berge wandern können? Dann sollte ich genau darauf hinarbeiten und jetzt schon diese Funktionen trainieren. Denn der Körper passt sich den Anforderungen gemäss an, die Faszie ist ein dynamisches Organ.
Die Faszien – das Bindegewebe – spielen Ihrer Ansicht nach eine entscheidende Rolle bei der Beweglichkeit.
Ja, wobei ich von der Faszie spreche. Sie ist die Architektin unseres Körpers und bildet ein dreidimensionales Spannungsnetzwerk. Dieses reicht von der Hautoberfläche bis in den Zellkern. Durch die Faszie ist alles mit allem verbunden. Sie bestimmt unsere Körperform, die Art, wie wir uns bewegen können. Sie ist reichhaltigstes Wahrnehmungsorgan und hat enge Verbindungen zum Nervensystem. Somit ist die Faszie nicht nur für die Beweglichkeit massgebend, sondern hat auch entscheidenden Anteil an unserer Vitalität, unserem körperlichen und seelischen Wohlbefinden.
Nach Ihrer Theorie würde es gar nichts über die körperliche Verfassung eines Menschen aussagen, wenn er ohne Probleme 50 Liegestütze und 50 Klimmzüge absolvierte.
Genau. Das würde zunächst einmal bedeuten, dass der in der Lage ist, je 50 Liegestütze und 50 Klimmzüge zu absolvieren. Aber es sagt nichts über sein Körpergefühl aus, über sein Bewegungsrepertoire, über seine Beweglichkeit – all die Dinge, die wir eigentlich im Alltag brauchen. Und so kommt es eben, dass viele Menschen den falschen Idealen hinterherlaufen, teilweise auch deshalb, weil solche Schönheitsideale kursieren. Ein Waschbrettbauch deutet nur auf eine verhärtete Faszie hin. Dabei muss diese geschmeidig sein, um beweglich zu sein, also um den ganzen Körper richtig zu gebrauchen.
Ein Werbeslogan heisst: «Ein starker Rücken, keine Schmerzen.»
Da würde ich ganz vehement widersprechen. Ich hatte kürzlich einen Patienten in der Praxis, der ist 1,90 Meter gross und gut trainiert, er macht vier Mal die Woche Krafttraining. Durch das Training fühlt er sich besser, aber er sagt auch, dass er von keiner guten Lebensqualität sprechen würde, da einige Dinge für ihn nach wie vor eine Qual sind. Und das ist kein Einzelfall. Aus diesem Grund sage ich: Diese Gleichsetzung von Fitness beziehungsweise Sport und Gesundheit – das ist eine Lüge. Unser Körper arbeitet 24 Stunden am Tag. Wenn Sie also 23 Stunden eine ungünstige Belastung haben, dann werden Sie die mit einer Stunde Sport nicht ausgleichen können. Für viel entscheidender halte ich, die richtige Bewegung in unseren Alltag einzubeziehen. Und wenn ich schmerzfrei und ohne Verspannungen bin, dann kann ich den Sport für mich wählen, der mir am meisten Freude bereitet und den grössten Mehrwert bietet.
Und warum laufen so viele Menschen diesen Ihrer Ansicht nach verkehrten Idealen hinterher?
Die Fitnessindustrie hat es gut verstanden, dieses Ideal zu vermarkten. Mehr als elf Millionen Deutsche sind Mitglied in einem Fitnessstudio. Aber auch sonst werden Fitness und Gesundheit häufig synonym verwendet. Dann werden Dinge propagiert, die keine Aussagekraft haben. Nehmen Sie zum Beispiel die Regel von den 10 000 Schritten am Tag, die sich prima mit einer Smartwatch oder einem Smartphone zählen lassen. Wenn Sie 10 000 Schritte absolvieren, dann haben Sie sich zwar quantitativ viel bewegt. Aber keiner schaut auf die Bewegungsqualität. Beim richtigen Gehen spart jedoch jeder Schritt Energie.
Also besser gar keine Bewegung als falsche Bewegung?
Definitiv nein. Bewegung ist Leben. Ein Couch-Potato ist nicht gesund. Ich möchte, dass deutlich weniger Menschen Rückenschmerzen haben, viel weniger Operationen benötigt werden und das Alter nicht gleichbedeutend mit Verfall, Steifheit und Rollator ist. Ich möchte ein Umdenken bewirken. Dazu darf ich mich aber nicht von Fitness-Schönheitsidealen blenden lassen, sondern sollte die eigene Körperform optimieren und auf die richtige Bewegung achten. Generell auf Sport und auf Muskelaufbau zu setzen, bringt uns keinen Fortschritt.
Wie gelingt die Integration in den Alltag?
Ausschlaggebend für mich ist die Körperhaltung, besser gesagt: die Körperstruktur. Wenn diese ideal ist, bin ich gewissermassen im Lot. Das heisst: Der Körper ist aufrecht und ausbalanciert. Dann kann ich mühelos aufrecht stehen, und ich kann mich auch mit möglichst wenig Muskelkraft und somit mit geringem Energieverbrauch bewegen. Das ist bei vielen Menschen alles andere als ideal. Sie treiben Sport mit eingefallenem Brustkorb, mit vorgeschobenem Becken, mit nach innen rotierten Armen. Die falschen Belastungen im Sport verstärken diese Fehlhaltungen. Ich plädiere dafür, erst einmal auf die Körperstruktur zu schauen. Und der zweite Schritt bedeutet: Wie bewege ich mich eigentlich? Durch das richtige Bewegen – geschmeidig und ökonomisch – kann ich die Körperform schrittweise wieder ins Lot bringen. Dabei zählt jede Bewegung: Wie ich die Tür öffne, wie ich die Waschmaschine einräume, wie ich sitze, wie ich gehe.
Wo liegt das Problem beim Sport?
So absurd es vielleicht klingen mag: Sport erzeugt einen körperlichen Bewegungsmangel. Im Idealfall ist eine einzelne Bewegung stets eine Ganzkörperbewegung. Werden einzelne Körperabschnitte nicht bewegt, dann entsteht dort lokal ein Bewegungsmangel. Dieser führt dann zu krankhaften Veränderungen, wie Abnutzungen der Gelenke, der Arthrose. Sport fördert mit den monotonen Bewegungsabläufen einen derartigen Bewegungsmangel. Die Bewegungsvielfalt geht verloren. Das ist neben fehlender Bewegungsqualität der Einzelbewegung das Problem jeder einzelnen Sportart.
Moment: Nehmen wir mal eine Kampfsportart wie Ringen, da wird doch der gesamte Körper belastet. Und selbst beim Handball werden etliche Gelenke und Muskelgruppen mit einbezogen.
Ja, aber jede Sportart hat ihre Spezifika – auch Ringen. Als Jugendlicher habe ich gerungen, da konnte ich 100 Liegestütze machen. Meine Kämpfe habe ich hauptsächlich durch Kraft gewonnen, damals hatte ich noch diese jugendliche Flexibilität, die Lockerheit des Gewebes. Und trotzdem war ich schon ziemlich verspannt. Das hat dazu geführt, dass ich mit Mitte zwanzig schon zu Schmerzmitteln gegriffen habe. Und wenn Sie Handball ansprechen: Da wird sicherlich mehr mit einbezogen als beim Fussball, aber letztlich geht es in jeder Sportart um spezifische Techniken.
Das muss doch per se nicht schlecht sein.
Aber dieses Spezifische vernachlässigt das grosse, mögliche Bewegungsrepertoire des Menschen. Das natürliche Bewegen – intuitiv, spontan, situativ angepasst. So wie gesunde Kleinkinder, die sich alle gleich bewegen. Nur im Alter erkennen wir Onkel Fritz schon aus 100 Metern Entfernung durch sein Gangbild. Da läuft etwas falsch. Es wäre für uns alle viel einfacher, wenn der Mensch im Lot wäre. Aber wie soll jemand, der aufgrund seiner Verspannungen noch nicht einmal richtig stehen kann, richtig sitzen? Und wie soll er sich dann überhaupt vernünftig bewegen, um gesund zu bleiben?
Wenn Sport nicht die Lösung ist: Was wäre zu tun?
Der Alltag bestimmt unsere Lebensqualität. Und hier zählt die Faszie viel mehr als der Muskel. Im Fitnessstudio geht es jedoch meistens um Muskelkraft. Man trainiert Muskeln, beispielsweise im Oberschenkel, um nicht zu stürzen. Nur ist die Bewegung im Fitnessstudio eine ganz andere als beim Treppensteigen. Im richtigen Leben ist jede Bewegung einzigartig. Deswegen würde ich sagen: Wenn Sie mit 80 Jahren noch Treppen steigen möchten, dann steigen Sie Treppen, und wenn Sie in der Schweiz auf einen Berg steigen wollen, dann gehen Sie Bergsteigen.
Das klingt fast schon zu einfach.
Das ist ja das Schöne daran. Betreiben Sie das, was Sie jetzt und später können wollen. Dann haben Sie parallel Kraft, Ausdauer und Koordination trainiert. Mit richtiger Bewegungsqualität absolvieren Sie so ein ganzheitliches Ganzkörpertraining. Das schafft kein Fitnesstraining im Studio. Oder nutzen Sie Ihre Hausarbeit als ein Super-Workout. Denken Sie daran: Der Körper trainiert 24 Stunden am Tag. Und dadurch schaffen Sie Zeit für andere Dinge. Das halte ich für Lebensqualität. Und darauf kommt es an.
Arvid Neumann: Die Fitness-Lüge. Dumont-Verlag. 256 S., Fr. 27.90.
Arvid Neumann: Orthopäde und Sportwissenschafter
sos. · Arvid Neumann ist Sportwissenschafter, Orthopäde und Unfallchirurg mit Praxis in Oberursel. Als Sportler betrieb der gebürtige Berliner einst Ringen und spielte Fussball. In seinem Buch «Die Fitness-Lüge» schreibt Neumann, dass Sport und Gesundheit nicht synonym seien. Viele Menschen liefen einem falschen Ideal hinter, das von der Fitnessindustrie propagiert werde. Sport mache per se nicht gesund. Viel wichtiger, so Neumann, sei dagegen, wie der Mensch sich bewege. Elementar ist für ihn dabei die Bedeutung der Faszien.