Ein Rohr, durch das russische Soldaten krochen, wird nun bei der Kathedrale in Jekaterinburg ausgestellt. Die Autorin Irina Rastorgujewa schreibt, dass sich die russisch-orthodoxe Kirche vom Christentum entferne, um der Staatspropaganda zu dienen.
Der politische Symbolismus hat in Russland eine neue Phase erreicht. Am 23. März wurde im Hof der Jekaterinburger Kathedrale eine Nachbildung eines Teils der Gaspipeline Urengoi–Pomary–Uzhgorod aufgestellt. Ein Trupp russischer Soldaten schlich sich Anfang März nahe der Grenzstadt Sudscha durch das unterirdische Rohr in den Rücken der ukrainischen Armee. Die Informationen darüber sind widersprüchlich: Einige Quellen behaupten, dass 800 Menschen durch das Rohr gingen, andere sprechen von 100 Menschen.
Die Zusammensetzung der Truppe ist unklar. Einige sagen, dass es Kämpfer einer Spezialeinheit gewesen seien, andere, dass es sich um das tschetschenische Bataillon Achmat gehandelt habe; und manche wollen sogar Söldner der privaten Wagner-Kampfgruppen entdeckt haben. Ebenso unklar sind die Informationen über den Ausgang der Operation: Laut einigen Quellen wurde die Truppe vom Feind überrascht, so dass die russische Armee erhebliche Verluste erlitt, während laut anderen die Operation «Flut» eine Schlüsselrolle bei der Befreiung der Region Kursk gespielt haben soll, die zeitgleich stattfand.
Niemand weiss etwas über den Zustand der Soldaten, die dieses zweifelhafte Kunststück vollbracht haben. Es kursierten allerdings Informationen, wonach bei mehreren, die sich durch das Rohr gekämpft hatten, chemische Schädigungen der Lungen diagnostiziert worden sind. Einige sollen erstickt sein.
Sicher ist immerhin, dass die Röhre einen Durchmesser von 142 cm hat und die Operierenden 15 bis 16 Kilometer darin zurückgelegt haben. Die russische Propaganda bezeichnet die Operation deshalb als «heldenhaft» und «beispiellos». Natürlich ist auch ein autokratisches Regime auf Helden angewiesen, zu viel Glamour will es aber nicht abgeben. So wurde die Pipeline selber zum Helden dieser Operation erkoren.
Russian social media have been flooded with footage showing Russians walking through a replica of the gas pipeline that their troops tried to use to infiltrate the town of Sudzha, set up in the church courtyard in Yekaterinburg. On March 8-9, Russian soldiers traveled 16 km… pic.twitter.com/PLLCbw2w9D
— Aleksandar Djokic (Александар Джокич) (@polidemitolog) March 28, 2025
16 Meter Symbolik
Nun hat man deshalb ein symbolisches Stück einer Gasleitung in der Nähe der Kathedrale «auf dem Blut» installiert; die Kirche ist an jenem Ort gebaut, an dem die Zarenfamilie Romanow einst hingerichtet worden ist. Das 16 Meter lange Rohr aber fungiert nun als Mahnmal für Wahnsinn oder Mut.
Der örtliche Bischof, Jewgeni Kulberg, forderte die Einwohner in den sozialen Netzwerken umgehend auf, diese 16 Meter zu Fuss zu gehen, um zu spüren und zu würdigen, «was unsre Jungs für die Verteidigung des Vaterlandes erlebt und getan haben». Im Telegram-Kanal der Kathedrale berichtet er, dass der Durchmesser des installierten Rohrs dem Durchmesser jener Gasleitung genau entspreche, «die unseren Soldaten einen heldenhaften Sieg beschert hat».
Ende März wurde das Mahnmal eingeweiht; die Feier war noch surrealer als das ausgestellte Rohr selbst. Die Sängerin Vika Zyganowa, die schon die Hymne der Militärgruppe Wagner intoniert hatte, sang nun ein Lied mit dem Titel «Truba» – das «Rohr». Der Refrain geht so: «‹Rohr› ist ein russisches Wort! / Rohr heisst Rohr! / Das Rohr wird zu euch kommen! / Rohr! Rohr! Rohr!»
Im Russischen hat das Wort übrigens einen negativen Doppelsinn. Der Ausdruck «Deine Sache ist wie ein Rohr» (Twoje delo – truba) meint ein hoffnungsloses Unternehmen oder die verzweifelte Lage einer Person. Zyganowa wollte gewiss keine subversiven Wortspiele in den Liedzeilen unterbringen. Auf die Doppeldeutigkeit angesprochen, versicherte sie, mit «Rohr» ausschliesslich den ukrainischen Feind ins Visier nehmen zu wollen.
Auf Fotos der Feierlichkeiten sind auch rote Banner mit dem Gesicht von Jesus Christus. Und auf der Bühne, auf der Zyganowa auftrat, wehte eine Flagge der offiziell als aufgelöst geltenden Wagner-Gruppe. Zur Erinnerung: Ende Juni 2023 rief der Wagner-Boss Jewgeni Prigoschin eine bewaffnete Meuterei in Russland aus, zwei Monate später kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, aus heiterem Himmel, gewissermassen.
Nachdem das Konzert mit einem kirchlichen Schwur beendet worden war – «Zar und Herrgott sind mit uns» –, bückte sich die Sängerin, um selbst als Erste durch das enge Rohr zu schreiten – in ihrem eleganten Kleid und auf hohen Absätzen.
Den Angaben lokaler Medien gemäss nahmen etwa tausend Menschen an der Eröffnungszeremonie teil. Metropolit Kulberg selbst ergriff das Wort und tat seine Zuversicht kund, dass jeder normale Junge gerne am Krieg gegen die Ukraine teilnehme, in Zeiten eines Konflikts sei das für junge Russen geradezu selbstverständlich.
Der Metropolit fühlte sich vom neuen Jekaterinburger Röhren-Denkmal an all jene Panzer erinnert, die, auf Podesten installiert, in ganz Russland an den Grossen Vaterländischen Krieg erinnerten. Das symbolische Rohr selbst aber verglich er mit der Schleuder, mit der David einst Goliath besiegte.
Kulberg überraschte auch noch mit weiteren Äusserungen. So behauptete er etwa, in Panzerfabriken würde die Musik des Lebens geboren. Und wie Jesus Christus den Tod überwand, so werde Russland dank seiner «militärischen Spezialoperation» die Ukraine besiegen.
«Priester aus dem Rohr»
Die Affinität des Metropoliten zu grossen Gesten und Symbolen kennt man schon aus früheren tagen. 2022 liess Kulberg zu den russischen Maifeiertagen (1. bis 9. Mai) ein Banner mit Hammer und Sichel, ein Banner mit dem Buchstaben Z und die Flaggen der sogenannten Luhansker und Donezker Volksrepubliken an der besagten Jekaterinburger Kathedrale hissen. Auf diese Weise gedachte er am Tag der Arbeit gleichzeitig Gottes, der hingerichteten Romanows, der Bolschewisten, der Rotarmisten und der Imperialisten.
Die Gaspipeline Urengoi–Pomari–Uzhgorod sorgt derzeit für neue Mythen. Mitte März berichtete der regierungsnahe Telegram-Kanal Readowka von Alexei Skripkin; der Vorsteher der Peter-und-Paul-Kirche in dem Dorf Owsorow soll an der Operation «Flut» teilgenommen haben. Skripkin wird dahingehend zitiert, dass er im Rohr «die Gegenwart und Gnade Gottes» gespürt habe. Deshalb wird er neuerdings «Priester aus dem Rohr» genannt.
Der orthodoxe Fernsehsender «Spas» (Erlöser) nannte die Pipeline «Strasse des Lebens» und verglich sie mit einem anderen symbolträchtigen Ereignis der russischen Geschichte – mit der Wiederherstellung der Lebensmittelversorgung im von der Wehrmacht belagerten Leningrad.
Angeblich plant man nun Kreuzzüge durch die Pipeline zu führen, Babys darin zu taufen und Panzer davor einzuweihen. Der militärische Heroismus vermengt sich so mit einem kirchlichen Obskurantismus. Und es sollte nicht verwundern, wenn ein Teil des Rohrs bei der Siegesparade am 9. Mai zusammen mit den Überresten der Romanows und der roten Fahne samt Christus-Antlitz als Reliquie aufgefahren wird.
Der patriotische Wahnsinn macht deutlich, wie weit sich die russisch-orthodoxe Kirche vom Christentum entfernt, um in einer Pseudoreligion ganz der Staatspropaganda zu dienen. Wenn sich Militarismus, Spiritualität und Todeskult miteinander vermengen, wirkt das wie ein heidnischer Tanz für jenen Krieg, den auch der Patriarch Kyrill höchstselbst in seinen Gebeten gerne besingt.