Auf der literarischen Landkarte der Welt ist Südostasien nach wie vor eine Terra incognita. Es ist daher zu begrüssen, dass die diesjährige Frankfurter Buchmesse im Zeichen der Philippinen steht. Deren Freiheitsheld, José Rizal (1861–1896), war tief europäisch geprägt.
Die Tür geht auf, und «ein junger Mann in Trauerkleidung» platzt in eine festliche Abendgesellschaft in Manila. Zugegen sind Politiker, Militärs und etliche katholische Geistliche, die einander missgünstig belauern. José Rizal (1861–1896) beschreibt sie in seinem Debütroman herrlich ironisch. Es sind die 1880er Jahre, und man parliert natürlich auf Spanisch, in der Sprache des kolonialen «Mutterlandes».
Der Neuankömmling heisst Crisóstomo Ibarra. Sieben Jahre lang war er Student in Europa, auch in Deutschland. Er ist also ein «ilustrado», ein Aufgeklärter, ein Mitglied der kleinen, aber mobilen philippinischen Intelligenzia seiner Zeit. Vor kurzem ist sein Vater gestorben. Nun will Ibarra das väterliche Grab besuchen, eine Schule gründen und vielleicht sogar in eine faire Kokosnussverarbeitung investieren. Ein nobler Typ! Und natürlich will er auch die schöne Maria Clara wiedersehen. In José Rizals Debütroman «Noli me tangere» (1887) kehrt Ibarra also frisch zurück nach Hause wie später auch noch einmal in seinem zweiten Roman «El Filibusterismo» («Die Rebellion», 1891). «Noli» und «Fili» werden die beiden Romane gern abkürzend genannt.
Aus der Oberschicht
Auch der Autor José Rizal ging mehrfach weg und kehrte wieder zurück. Erst als Reisender, dann als Exilant, heute als literarische Figur in herausragenden Romanen und aktuell sogar als Galionsfigur für die nächste Frankfurter Buchmesse. Der Filipino bot den Spaniern die Stirn und gilt daher als Nationalheld. Sogar ihr Motto für den Gastlandauftritt an der Frankfurter Buchmesse im Herbst entleihen die Philippinen seinem Debüt: «Fantasie beseelt die Luft».
José Rizal wurde 1861 «in Calamba, einem etwa zehn Stunden mit der Pferdedroschke von Manila entfernten Ort in der Provinz Laguna», geboren, notiert der Südostasienwissenschafter Bernhard Dahm in seiner klugen, kleinen Rizal-Biografie. Die Entfernung von rund 54 Kilometern schafft man heute in rund einer Autostunde.
Natürlich konnte Rizals wohlhabende Familie das einheimische Tagalog, sprach aber lieber das Spanisch der Oberschicht, und so erhielt auch der Sohn eine höhere Bildung an Klosterschulen der Region und später an der Universität in Manila. Im Mai 1882 machte er sich – die Familie konnte es sich leisten – auf den Weg nach Europa.
Klar, reiste er zunächst nach Spanien, wo er sich wunderte, was man dort alles sagen durfte. Mitten in Barcelona forderten die Katalanen die Abspaltung von Madrid! So etwas durfte man daheim – kontrolliert von Guardia Civil und «frailocracia» (Mönchsherrschaft) – nicht einmal denken. Bald verbündete sich Rizal mit anderen Auslandsfilipinos und veröffentlichte angriffslustige Texte gegen die spanische Kolonialherrschaft, die in Manila grantig rezipiert wurden. In dieser Zeit begann Rizal auch, jenen grossen Roman zu verfassen, auf den sich die unabhängigen Philippinen bis heute berufen: «Noli me tangere».
Sein Romanskript nahm Rizal mit nach Heidelberg, wo er sich als angehender Arzt auf Augenheilkunde spezialisierte. Und wo er nebenbei mit einer Übersetzung von Schillers «Wilhelm Tell» ins Tagalog begann. Kein Zufall, dass ihn ausgerechnet die Geschichte des Schweizer Freiheitskämpfers Tell packte, auch wenn er für das alpine Drama um den Vater, den Sohn und den Apfel das tropische Tagalog ein wenig ummodeln musste.
Nationalhelden unter sich
Rizals Text wurde später zur frischen Inspiration für die Schweizer Autorin Annette Hug, die Tagalog spricht. In ihrem vielschichtigen Übersetzungsroman «Wilhelm Tell in Manila» (2016) überträgt sie Rizals Lösungen wiederum ins Deutsche zurück. So wird Rizal selbst zu gut recherchierter Fiktion, sein tagalischer Text zu einem Deutschschweizer Spiegel.
Rizal hätte sein literarischer Auftritt bei Hug garantiert gefreut, denn er liebte die deutsche Sprache. Er lernte sie rasch, war kontaktfreudig und fand im böhmischen Philippinen-Forscher Ferdinand Blumentritt seinen «best friend forever». Nach ihm ist heute sogar eine Strasse im Zentrum von Manila benannt. Die berühmte Blumentritt Road mündet dort in die sechsspurige Rizal Avenue. Die Strassen in der näheren Umgebung sind zudem nach Figuren aus Rizals Romanen benannt. Sie verlaufen nur wenige Kilometer nördlich des nationalen Rizal-Monuments, das in Erinnerung daran errichtet wurde, dass der wagemutige Autor nach seiner letzten Heimkehr der Rebellion angeklagt wurde.
Mit nur 35 Jahren wurde José Rizal hingerichtet. Seine bis heute von zwei Soldaten bewachte Statue in Manila schuf einige Jahre nach seinem Tod ausgerechnet der Schweizer Bildhauer Richard Kissling. Er hatte zuvor bereits das berühmte Wilhelm-Tell-Denkmal in Altdorf im Kanton Uri gestaltet. Nationalhelden unter sich!
Der junge Rizal aber ahnte nichts von Todesgefahr, als er 1887 beim billigsten Drucker in Berlin seinen «Noli» drucken liess. Dieser bietet mit Politikern, Padres und Revolutionären ein philippinisches Gesellschaftspanorama erster Güte, ist schlagfertig und witzig und wird nur dann im Ton etwas biedermeierlich, sobald junge Frauen in raschelnden Kleidern auftreten.
Die Nähe zu populären Zeitungsromanen des späten 19. Jahrhunderts ist ebenso spürbar wie die zu antiklerikalen Schriften jener Zeit, wie der Literaturwissenschafter (und Träger der brandneuen Ferdinand-Blumentritt-Medaille) Dietrich Hardt in seiner umfangreichen Rizal-Monografie überzeugend darlegt. Dabei schwört die Hauptfigur Ibarra auf Fortschritt durch Bildung und lehnt eine gewaltvolle Revolution gegen das spanische Establishment ab. Schlau von Rizal, die Hauptfigur gemässigt zu gestalten, die radikalen anderen aber ausführlich argumentieren zu lassen.
Kompromissloser und auch bitterer wird Rizals Ton erst im «Fili», der auf Deutsch «Die Rebellion» heisst und 1891 im belgischen Gent gedruckt wurde. Diesen Roman schrieb er, nachdem «Noli me tangere» auf den Philippinen verboten worden war. Wieder war Rizal nach Europa gereist, diesmal allerdings fluchtartig. Auch im «Fili» kehrt der im «Noli» gescheiterte und nun schwer frustrierte Crisóstomo Ibarra auf die Philippinen zurück. Mithilfe von Verkleidung, Intrigen und einer mit Sprengstoff gefüllten Lampe macht er jetzt Ernst und will eine Revolution anzetteln.
War der Roman damals ein justiziabler Skandal, wird die deutsche Übersetzung heute begleitet von einem freundlichen Dankwort der philippinischen Botschaft in Berlin an Übersetzer und Herausgeber, «who have studied the life and works of our national hero». Dass sich der Ton des späteren Nationalhelden in den Jahren seines erzwungenen Exils verschärfte, erlebt man übrigens auch in seinen politischen Texten, die im Bändchen «The Philippines. A Century Hence» zusammengetragen sind.
Bis heute populär
Zurück in Manila, wurde José Rizal 1892 verhaftet und zunächst für vier Jahre ins Provinznest Dapitan auf der Insel Mindanao verbannt, 1000 Kilometer südlich der Hauptstadt. Just in diesen Ort schickt später die Autorin Gina Apostol den fiktiven Raymundo Mata. In ihrem hochkomischen Roman «The Revolution According to Raymundo Mata», der 2010 mit dem Philippine National Book Award ausgezeichnet wurde, erlebt der Rizal-Fan Mata ein etwas missglücktes Treffen mit seinem Idol. Apostols Roman ist Matas Tagebuch, das zugleich versehen ist mit den 529 streitsüchtigen Fussnoten einer späteren Herausgeberin, einer Psychologin und einer Übersetzerin. Sie alle sind Erfindungen Apostols, die in ihren schrillen Fussnoten nichts Geringeres diskutieren als die philippinische Geschichtsschreibung selbst.
José Rizal ist also bis heute in aller Munde. Viele Orte auf den Philippinen sind nach ihm benannt. Statuen und Plaketten schmücken die Orte, an denen er wirkte, auch in Deutschland und der Schweiz. Ausserdem werden seine Bücher immer wieder neu in Comics, Songs und Filme umgearbeitet, zuletzt zum Beispiel in die 105-teilige philippinische Fernsehserie «Maria Clara at Ibarra».
Von alldem konnte José Rizal nichts ahnen, als er 1896 nach erneuten Verwicklungen vor ein Kriegsgericht gestellt und wegen Rebellion zum Tode verurteilt wurde. Am 30. Dezember 1896 wurde er von spanischen Soldaten in Manila exekutiert. Er trug einen schwarzen Anzug. Die Legende geht, dass er sich im Fallen noch einmal umdrehte, doch nirgendwo mehr hinkonnte.
José Rizal: Noli me tangere. Aus dem philippinischen Spanisch von Annemarie del Cueto-Mörth. Insel-Verlag, 1987. (Augenblicklich nur antiquarisch erhältlich; Neuauflage bei Insel geplant für August 2025.) – José Rizal: Die Rebellion. Aus dem philippinischen Spanisch von Gerhard Walter Frey. Morio-Verlag, 2016. – Dietrich Hardt: José Rizals Kampf um Leben und Tod. Facetten einer kolonialismuskritischen Biografie. heiBooks (Universitätsbibliothek Heidelberg), 2021. – Bernhard Dahm: José Rizal. Der Nationalheld der Filipinos. Verlag Muster-Schmidt, 1988 (2. Auflage 2010). – Annette Hug: Wilhelm Tell in Manila. Wunderhorn-Verlag, 2016. – Gina Apostol: The Revolution According to Raymundo Mata. Soho, 2009.