Die Prunkfassaden von Versailles, eine Revolution. Aber auch Jeanne d’Arc, Yves Montand und Brigitte Bardot: Frankreich ist verwirrend vielfältig. Volker Reinhardt gibt eine Anleitung, das Land zu verstehen.
Wo und wann soll man anfangen, wenn man eine Kulturgeschichte Frankreichs schreibt? Und woran soll man sich halten? Der deutsche Literaturwissenschafter Ernst Robert Curtius beschwor vor über einem Jahrhundert den «Französischen Geist» – und konzentrierte sich dabei auf die grossen Schriftsteller. Thomas Hellmuth orientiert sich in seiner kürzlich erschienenen Kulturgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert an Theorien über die bürgerliche Gesellschaft, und Johannes Willms näherte sich dem Thema über die Geschichte der «grossen Männer».
In seiner unter dem Titel «Esprit und Leidenschaft» erscheinenden Kulturgeschichte Frankreichs wählt der Historiker Volker Reinhardt den gleichen Zugang, wie er ihn vor einigen Jahren mit Blick auf Italien unter dem Titel «Die Macht der Schönheit» gefunden hat: Er zeigt die ganze Breite von Phänomenen, Menschen, Ereignissen und Entwicklungen, die das Land und seine Geschichte prägen.
Aber wo beginnen? «Unter einer Pinie, neben einem Weissdornbusch, hatten sie einen Stuhl aus reinem Gold aufgestellt. Darauf sitzt der König, der über das süsse Frankreich (‹douce France›) herrscht», heisst es in dem um 1100 entstandenen Rolandslied, in dem Volker Reinhardt die erste «Selbstverortung» des französischen Selbstbewusstseins sieht.
Dass es sich bei dem König um Karl den Grossen handelt und dass die Pinie nicht in Frankreich, sondern im andalusischen Cordoba steht, ist nicht entscheidend. Wichtig ist vielmehr der Begriff «douce France», der sich vom Hochmittelalter bis ins Chanson von Charles Trenet gehalten hat – als Ausdruck eines Selbstverständnisses, das prägend blieb für die nationale Identität.
Im Spiegelsaal von Versailles
Volker Reinhardt nähert sich diesem Selbstverständnis zunächst über die Entwicklung von der Kultur der Höfe zur Kultur des Hofes, also über die Konsolidierung der Monarchie. Dann über die Religionskriege und die Zentralisierung der absolutistischen Monarchie. Dabei entwirft er ein Panorama von der Gotik in Chartres, Paris und Reims über die lange ignorierte Geschichte der Katharer und – sie darf auf keinen Fall fehlen – von Jeanne d’Arc bis zum Hof und zur Politik Franz’ I. und zu den Schlössern an der Loire.
Ausflüge in die Gedichte des mittelalterlichen Poète maudit François Villon und in François Rabelais’ Renaissance-Roman «Gargantua und Pantagruel» gehören ebenso dazu wie Marguerite de Navarres «weiblicher Blick auf die Macht». Dass ein grosses Kapitel des Buches der Geistesgeschichte zwischen Descartes und Racine gewidmet ist, stellt eine Hommage an die Zeit dar, die die Franzosen das «grosse Jahrhundert» («le Grand Siècle») nennen, das im Spiegelsaal von Versailles seine Apotheose findet.
Unter dem Titel «Der Tanz auf dem Vulkan» schildert Reinhardt das 18. Jahrhundert als Vorgeschichte der Revolution – mit einem interessanten Kapitel über den Marquis de Sade, dessen bizarre Theorien er als «aristokratischen Extremismus» versteht. Vielleicht wäre er mit gleicher Plausibilität als ins Extreme gesteigerte Verkörperung des souveränen Subjekts zu deuten, das sich in der Aufklärung konstituiert.
Die Zeit zwischen 1789 und 1871 stellt Reinhardt weniger als Kaskade von Revolutionen bis zur Commune von 1871 und zu deren Niederschlagung dar, vielmehr fokussiert er auf Literatur und Kunst. Auf Stendhal, Balzac und Flaubert, auf Géricault und Jules Michelets «Geschichte Frankreichs», die das nationale Narrativ tief geprägt hat. Und leitet dann von der Zerreissprobe der Affäre Dreyfus über zu Themen, die weniger gewichtig, aber für das Selbstverständnis ebenso wichtig sind: dem Impressionismus, der Tour de France, der Philosophie von Camus und Sartre und der Umgestaltung von Paris in der Ära Mitterrand, die ihren markantesten Punkt in der «Grande Arche de la Fraternité» am Ende der Sichtachse der Champs-Élysées gefunden hat.
Das leere Fenster
«Das grosse leere Fenster auf dem Hügel von La Défense ist so offen wie der Lauf der Geschichte», lautet der letzte Satz dieses Buches, das die Entwicklung von zwölf Jahrhunderten nachzeichnet und dabei verständlich macht, wie sich ein nationales Selbstverständnis bilden konnte, das sich immer auch universal verstand. Natürlich kann man das eine oder andere vermissen: Ist Pierre de Ronsard mit seiner römisch geprägten Dichtung nicht essenziell für das Verständnis der französischen Renaissance? Hätte nicht Delacroix’ monumentales Wandbild im Louvre, seine Hommage an die Freiheit, einen prominenten Platz verdient, ebenso wie der Umbruch, den das Stadtbild von Paris durch Napoleons Präfekten Haussmann erlitt?
Das mag sein. Viel wichtiger ist allerdings, dass es Volker Reinhardt gelungen ist, eine Kulturgeschichte Frankreichs zu schreiben, die das kulturelle Selbstverständnis des Landes auslotet, ohne in die Stereotype zu verfallen, die den deutschen Blick auf Frankreich oft bestimmt haben.
Der Historiker Marc Bloch hat einmal geschrieben: «Es gibt zwei Kategorien von Franzosen, die nie die Geschichte Frankreichs begreifen werden: diejenigen, die sich weigern, sich von der Erinnerung an die Krönungsfeiern in Reims anrühren zu lassen, und diejenigen, die den Bericht über das Bundesfest von 1790 ohne innere Anteilnahme lesen.» Volker Reinhardt spannt den Bogen zwischen beiden, zieht ihn weit darüber hinaus und zeigt, was es heissen könnte, die Geschichte Frankreichs zu begreifen: von der Leidenschaft der Troubadoure über den philosophischen Esprit von Michel de Montaigne bis zu den Modeateliers der Rive Gauche in Paris.
Volker Reinhardt: Esprit und Leidenschaft. Kulturgeschichte Frankreichs. C.-H.-Beck-Verlag, München 2025. 656 S., Fr. 49.90.