Vom Terroristen zum Hoffnungsträger: Nach der Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) steht die Freilassung des Kurdenführers im Raum. Wer ist der Mann, der seit einem Vierteljahrhundert in türkischer Haft sitzt?
Dunkle Haare, ein dichter Schnauzbart und ein freundliches Lächeln im Gesicht – Poster und Banner mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan zeigen meist einen Mann im besten Alter. Doch wie der 76-jährige Gründer der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heute tatsächlich aussieht, wissen die wenigsten: Seit 25 Jahren ist Öcalan auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer inhaftiert. Besuch bekommt er nur selten.
Während vieler Jahre hörte man kaum etwas von dem isolierten Kurdenführer. Doch im Februar 2025 war sein Name plötzlich wieder in aller Munde. In einer Erklärung aus dem Gefängnis forderte Öcalan die PKK auf, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen. Anfang dieser Woche vollzog die bewaffnete Gruppe tatsächlich diesen Schritt. Doch warum hat das Wort des inhaftierten Revolutionärs noch immer ein derart grosses Gewicht?
Der zu lebenslanger Haft verurteilte ehemalige Kämpfer gilt als wichtigste Führungsfigur der bewaffneten Gruppe, die in der Türkei, der EU und in den USA als Terrororganisation eingestuft wird. «Die PKK war nie eine demokratische Organisation», sagt Walter Posch, Nahostexperte an der Landesverteidigungsakademie in Wien. «Sie hat einen starken Führungskult mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein. Öcalan dürfte der einzige gemeinsame Nenner sein, der vom einfachen Kämpfer bis zum obersten Kommandanten alle Bereiche vereinigt.»
Der revolutionäre Kommunismus prägte Öcalans Mentalität
Geboren 1949 in Ömerli, wuchs Öcalan in einer Bauernfamilie im Südosten der Türkei auf, studierte danach in Istanbul. Die brutalen Strassenkämpfe zwischen rechten und linken Gruppen in den siebziger Jahren und der revolutionäre Kommunismus prägten seine Mentalität. 1978 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der PKK und übernahm ihren Vorsitz. Das Ziel der Gruppe: ein unabhängiger kurdischer Staat. Ihr Mittel: der Guerillakrieg.
«Öcalan hat sich innerhalb seiner eigenen Organisation energisch durchgesetzt», sagt Posch. Nach einer Verhaftungswelle gegen die PKK setzte sich der Kurdenführer nach Syrien ab und führte von dort den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat. Parallel dazu verfasste er eine grosse Anzahl von Schriften. «Öcalan sieht sich auch als Lehrer und Philosoph – wie viele Führer von ideologischen Organisationen», sagt Posch.
Wegen der Aktivitäten der PKK drohte die Türkei Ende der neunziger Jahre Syrien mit Krieg. Darauf wurde Öcalan aus Syrien ausgewiesen. In verschiedenen Ländern bemühte er sich erfolglos um Asyl. Als er im Februar 1999 die griechische Botschaft in Nairobi verliess, wurde er mithilfe der CIA vom türkischen Geheimdienst aufgegriffen und in der Türkei zum Tode verurteilt. Doch 2004 schaffte die Türkei im Rahmen der EU-Beitritts-Verhandlungen die Todesstrafe ab. Öcalan entging dem Urteil.
Öcalan wurde als «Kindermörder» bezeichnet
Die ersten Jahre verbrachte der als «Staatsfeind Nummer eins» bekannte Öcalan in Einzelhaft. In der Türkei wurde er auch oft als «Kindermörder» bezeichnet. «Es stimmt, dass die PKK auch Minderjährige rekrutiert hat», sagt der Nahostexperte Posch. «Aber in den neunziger Jahren geschahen viele grausame Dinge. Nur einer Seite Grausamkeit vorzuwerfen, ist unstatthaft.»
Trotz seiner Inhaftierung galt Öcalan stets als Schlüsselfigur bei der Lösung der Kurdenfrage. Über seine Anwälte agierte er aus dem Gefängnis heraus – und zeigte sich der türkischen Regierung gegenüber verhandlungsbereit. Nach und nach wurden seine Haftbedingungen verbessert. Im März 2013 liess Öcalan durch einen Politiker der prokurdischen Partei BDP einen Aufruf zu einer Waffenruhe verkünden. Alle kurdischen Kämpfer sollten sich demnach aus der Türkei zurückziehen. Doch der Friedensprozess scheiterte.
Im Oktober 2024 startete der türkische Nationalistenführer Devlet Bahceli einen neuen Versuch. Der Koalitionspartner von Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte sich bis dahin vehement gegen Friedensverhandlungen mit der PKK gewehrt, forderte nun aber eine Annäherung an die Organisation. Als Grund für den Kurswechsel der Regierungskoalition sehen viele den Wunsch von Präsident Recep Tayyip Erdogan, sich für eine weitere Amtszeit zum Präsidenten wählen zu lassen. Dafür müsste er die Verfassung ändern lassen. Mit den Stimmen der Kurden könnte ihm das gelingen.
«Öcalan ist ein Überlebenskünstler»
Die Anhänger der PKK hoffen auf die Freilassung Öcalans und die offizielle Anerkennung der Kurden als Minderheit in der Türkei. Es wäre für sie ein akzeptabler Kompromiss – zumal die Organisation militärisch geschwächt ist. Mit Guerillataktik für die Errichtung eines eigenen Staates zu kämpfen, erscheint vielen jungen, gebildeten Kurden in der Türkei nicht mehr zeitgemäss. Sie interessieren sich mehr für demokratische Teilhabe als für den bewaffneten Kampf. Öcalan dürfte dies erkannt haben. «Er ist ein Überlebenskünstler mit einem sechsten Sinn für Macht», sagt Posch. «Er beherrscht das politische Spiel und ist fast ein ebenbürtiger Gegner zu Erdogan.»
Vier Jahrzehnte bewaffneter Konflikt in der Türkei haben tiefe Spuren hinterlassen: mehr als 40 000 Tote, zerstörte Städte und Dörfer, eine restriktive Terrorgesetzgebung, mit deren Hilfe die türkische Regierung auch gegen die Kurden vorgeht. Die Auflösung der PKK lässt die Menschen in der Türkei auf friedlichere Zeiten hoffen – und die 15 Millionen Kurden im Land auf ein Ende der Ausgrenzung und Diskriminierung. Es ist denkbar, dass Öcalans Anhänger bald neue Banner schwenken: mit dem Bild eines alten Mannes in Freiheit.