Der Orkan verursachte einen Schaden in Milliardenhöhe und tötete mehr als zwei Dutzend Personen. Trotzdem hatte er auch positive Folgen: für den Wald.
Als der Orkan «Lothar» vorüberzieht, Bäume niederwalzt, Dächer abreisst und ganze Häuser zerstört, wird die Situation sogar im Haus bedrohlich. Josef Odermatt kauert sich mit seiner Familie auf den Boden und harrt aus.
Josef Odermatt ist Revierförster des Kantons Nidwalden und wohnt in Oberdorf, einer Gemeinde mit 3000 Einwohnern am Eingang des Engelberger Tals. Jahrelang hat Odermatt mit seinen Mitarbeitern und den privaten Besitzern die Wälder im Kanton gepflegt und dazu beigetragen, dass der Wald die Dörfer vor Steinschlag, Rutschungen und Lawinen schützt, vor allen Naturgefahren. Doch an diesem 26. Dezember 1999 wird der Wald selbst zur Gefahr.
Landesweit zerstört «Lothar» innerhalb von wenigen Stunden Stromleitungen, Häuser und vor allem auch Wälder. Für den Revierförster Odermatt ist das im ersten Moment alles nebensächlich. Der Sturm reisst ein grosses Loch in das neue Dach seines Hauses und verteilt die Ziegel wie Konfetti überall auf seinem Grundstück. Er sagt: «Wir wussten nicht, ob wir das überleben.»
«Lothar» verursacht vielerorts in West- und Mitteleuropa Zerstörungen. In der Schweiz erreicht er Geschwindigkeiten von über 200 Kilometern pro Stunde. Die Schäden betragen rund 1,35 Milliarden Franken. 14 Personen sterben.
3500 Camionladungen an einem Tag
Am Stanserhorn, oberhalb von Oberdorf, entlädt sich damals die ganze Gewalt des Sturms. Über den Hang im Westen und im Norden des Berges erstreckt sich ein Schutzwald von 600 Hektaren. Von 400 Metern über dem Meer bis hinauf auf eine Höhe von 1600 Metern. Odermatt sagt, der Sturm habe hier 60 Prozent des Waldes schwer beschädigt oder zerstört.
Zwei Tage nach dem Sturm sagt ein Kollege von Odermatt in der «Tagesschau», es sei ihm vorgekommen, als stünde ein Riese oben am Stanserhorn und mähe den Wald mit einer Sense nieder.
Laut der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat nie zuvor ein Wintersturm für derart grosse Zerstörung in den Wäldern gesorgt. «Lothar» fällt allein in der Schweiz 14 Millionen Kubikmeter Holz. Das ist dreimal so viel, wie in der Schweiz jedes Jahr geschlagen wird. 3500 Camionladungen Holz an einem einzigen Tag.
In den Tagen nach dem Sturm füllen sich die Zeitungen mit Meldungen, die man so von der Hurrikansaison in den USA kennt. In Zürich ist ein Baukran umgestürzt, als wäre er ein Spielzeug. In Möhlin ist ein Mann von einer Tanne erschlagen worden, und in Crans-Montana ist ein Baum auf die Seile einer Gondelbahn gefallen, die daraufhin abgestürzt ist. Ein kleiner Bub und eine Frau sterben.
In der Holzbranche löst der Sturm ein Überangebot aus. Als Folge des Sturms fällt der Preis für Rundholz auf dem Holzmarkt wenige Monate später um einen Drittel. Bei den Aufräumarbeiten sterben schweizweit 17 Waldbesitzer und zwei Mitarbeiter von öffentlichen Forstbetrieben.
Im Mittelland wütet «Lothar» vor allem in Wäldern in Stadtnähe, die der Erholung dienen, und in solchen, die für die Holzproduktion genutzt werden. In den Voralpen und in den Alpen sind vor allem Schutzwälder betroffen. Allein in der Zentralschweiz zerstört «Lothar» 25 Prozent von ihnen.
Trotz all dieser Zerstörung, so sagen Experten 25 Jahre später, habe «Lothar» auch positive Folgen für den Schweizer Wald gehabt.
Nach den Sturmschäden kommt der Borkenkäfer
Peter Bebi forscht am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) seit Jahren zum Schutzwald und hat beobachtet, wie sich die Waldbestände in den letzten 35 Jahren in der Schweiz verändert haben. Bebi sagt, vor den 1990er Jahren habe es noch mehr Monokulturen mit Fichten gegeben, auch im Mittelland, wo diese Baumart eigentlich nicht heimisch sei. «Diese Fichtenbestände waren besonders anfällig für Sturmschäden.»
Die Fichte wächst schnell und ist deshalb für die Waldwirtschaft interessant, deshalb wurde sie bis in tiefe Lagen angesiedelt. In dichten Beständen hat sie eine kurze Krone und einen langen Stamm. Ihr Wurzelteller ist kurz, das heisst, die Wurzeln ragen weniger tief in den Boden als bei anderen Nadelbäumen üblich.
Ein weiteres Problem ist, dass der Buchdrucker, ein spezieller Borkenkäfer, die Fichte liebt. Liegt eine Fichte nach einem Sturm auf dem Waldboden, findet er in ihrer Rinde ideale Bedingungen vor und vermehrt sich, sobald es trocken und warm wird, rasend schnell und befällt in den folgenden Jahren auch gesunde Fichten. In den Jahren nach «Lothar», speziell nach dem Hitzesommer 2003, kommt es in den Wäldern erneut zu grossen Schäden. Der Borkenkäfer zerstört nur ein Drittel weniger Holzbestände als der Sturm «Lothar».
Heute, so Bebi, gebe es in der Schweiz weniger Fichten an Standorten, wo diese Baumart eigentlich nicht von Natur aus vorkomme. Das liegt daran, dass sich das Klima in der Schweiz aufgewärmt hat und die Fichte in dieser Umgebung immer schlechter zurechtkommt. Hinzu tritt, dass die Waldwirtschaft in den letzten Jahrzehnten aus Stürmen wie «Lothar» ihre Lehren gezogen hat. Gerade dank den grossen Schäden, die sie angerichtet haben.
Forscherinnen und Forscher haben in den vergangenen Jahren registriert, wie sich die geschädigten Wälder nach Stürmen wie «Lothar» entwickelt haben. Peter Bebi sagt, früher habe die Ansicht vorgeherrscht, Totholz müsse nach Sturmschäden weggeräumt werden. Inzwischen habe man gesehen, dass es ideale Voraussetzungen für die Natur biete und in vielen Fällen liegen bleiben könne. Wo das nach «Lothar» geschah, spriessen heute einheimische Pflanzen. Die Vielfalt, so Bebi, sei gestiegen.
Diese Vielfalt erfreut Biologen und Naturschützer, sie trägt aber auch dazu bei, dass die Wälder bei Stürmen widerstandsfähiger sind und sich nach Schäden schneller erholen.
Brutale Verjüngung
Doch in Extremfällen ist sogar das zu wenig. Der Wald am Stanserhorn im Kanton Nidwalden bestand aus verschiedenen heimischen Arten. Aus Laub- in den tieferen und Nadelbäumen in den höheren Lagen. Der Revierförster Odermatt sagt: «Wo der Sturm durchfegte, hat er alles abgeräumt.»
Zunächst müssen Odermatt und die Mitarbeiter der Forstbetriebe Strassen und Bachläufe vom Holz befreien, danach geht es um die Frage, wie der Wald die Dörfer unterhalb wieder schützen kann.
Die Hauptgefahr, so Odermatt, seien Rutschungen und Erosion. In besonders steilen, höheren Lagen haben Odermatt und seine Mitarbeiter einzelne Bäume gepflanzt, weil sie nicht auf eine natürliche Regeneration warten konnten. In den mittleren und tieferen Lagen setzten sie auf eine natürliche Verjüngung, damit sich verschiedene Arten entfalten konnten. Vor «Lothar» bestand der Wald am Stanserhorn zu 70 Prozent aus Nadel- und zu 30 Prozent aus Laubbäumen. Dieses Verhältnis, sagt Odermatt, habe sich wegen des vielen Lichts und der neuen klimatischen Bedingungen praktisch umgekehrt.
Bis die Schutzfunktion des Waldes am Stanserhorn vollständig wiederhergestellt ist, wird es noch Jahre dauern. Heute wüchsen am Stanserhorn praktisch überall wieder junge und vitale Bäume, sagt Odermatt. Das trage dazu bei, dass der Wald viel besser an die neuen klimatischen Bedingungen angepasst sei. Es sei brutal gewesen, sagt Odermatt. Aber bei aller Zerstörung und all den Toten habe der Sturm, zumindest für den Wald, auch sein Gutes gehabt.
Odermatt sagt, er hätte mit den Waldbesitzern und deren Mitarbeitern all diese positiven Entwicklungen ebenso herbeiführen können. Er hätte bloss viel mehr Zeit dafür gebraucht als der Orkan.