Das Zuger Kantonsgericht setzt neue Massstäbe für die Gewinnherausgabe an die Opfer von Boulevardmedien. Der Vater einer berühmten Tennisspielerin leistete dafür Vorarbeit. Gemäss Ringier gefährdet das Urteil die Medienfreiheit in der Schweiz.
Das Zuger Kantonsgericht hat am Montag ein für die Medien wegweisendes Urteil zur Berichterstattung über die Zuger Landammannfeier gefällt. An der Feier im Dezember 2014 war es zu einem Sexualkontakt zwischen der damaligen Grünen-Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin und einem SVP-Kantonsrat gekommen. Nun muss der Ringier-Verlag Spiess-Hegglin wegen seiner Berichterstattung 309 531 Franken bezahlen.
So hoch ist nach Ansicht der Richter der Gewinn, den das Medienunternehmen mit vier persönlichkeitsverletzenden Artikeln erzielt hat. Hinzu kommt ein Zins von 5 Prozent, der seit dem Erscheinen der Artikel aufgelaufen ist. Zudem muss Ringier der Zuger Netzaktivistin eine Parteientschädigung von 112 496 Franken bezahlen.
Die Gerichtsverhandlung in diesem vielbeachteten Fall fand bereits am 30. Oktober 2024 statt. Spiess-Hegglin hatte in ihrer Klage ursprünglich eine Gewinnherausgabe von 431 525 Franken gefordert. Ringier verlangte hingegen die vollständige Abweisung der Klage und unterlag damit.
Formel für Entschädigung von «Medienopfern»
Diese für Schweizer Verhältnisse hohe Gewinnherausgabe erreichte die Netzaktivistin mit einer sogenannten Stufenklage. In einem ersten Schritt stellte das Zuger Kantonsgericht bereits 2022 fest, dass die Artikel «Sex-Skandal in Zug: Alles begann auf der ‹MS Rigi›», «Jolanda ‹Heggli› zeigt ihr ‹Weggli›», «Neue Fakten in Zuger Polit-Sex-Affäre aufgetaucht: DNA-Analyse belegt ‹Kontakt im Intimbereich›» und «Ich öffnete die Tür und sah Kleider am Boden» Spiess-Hegglin in ihrer Persönlichkeit verletzt hatten. Ein weiterer Artikel wurde nicht als persönlichkeitsverletzend beurteilt.
In einem zweiten Schritt musste Spiess-Hegglin darlegen, welchen Gewinn der Ringier-Verlag mit den vier Artikeln auf dem Lesermarkt und mit der Werbung im Umfeld erzielt hatte. Gestützt auf die Geschäftszahlen, die Ringier auf richterliche Anordnung herausgeben musste, entwickelte Spiess-Hegglin zusammen mit ihrer Anwältin eine «Formel für die Entschädigung von Medienopfern». Grundlage für die Höhe der Entschädigung ist ein Gutachten, das unter anderem Hansi Voigt, der ehemalige Chefredaktor von «20 Minuten» und «Watson», erstellt hat. Ringier seinerseits rekonstruierte die tatsächlich erzielten Geschäftszahlen und belegte diese mit einem Gutachten des Wirtschaftsprüfers PwC.
Das Zuger Kantonsgericht stützt sich in seinem Urteil im Wesentlichen auf das von Spiess-Hegglin in Auftrag gegebene Gutachten. «Die von der Klägerin angewandten Kriterien und Überlegungen sind grundsätzlich nachvollziehbar», heisst es an mehreren Stellen der Urteilsbegründung. Das Gericht rechnet auf Franken und Rappen aus, wie viel Gewinn das Medienhaus online und im Print mit den eingeklagten Artikeln erzielt hat. In einigen Punkten haben die Richter Korrekturen nach unten vorgenommen, so dass die Gewinnherausgabe etwa drei Viertel der ursprünglich geforderten Summe ausmacht.
Das Kantonsgericht hält fest, ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einer bestimmten Berichterstattung und der Gewinnerzielung bei Medienerzeugnissen lasse sich «naturgemäss nicht strikt nachweisen». Die Richter verweisen in diesem Zusammenhang aber auf einen berühmten Entscheid des Bundesgerichts, der viel Aufsehen erregt hat.
Auch Vater von Patty Schnyder klagte erfolgreich
Im Dezember 2006 sprach nämlich das höchste Gericht dem Vater der Tennisspielerin Patty Schnyder die Herausgabe des (geschätzten) Gewinns zu, den der «Sonntags-Blick» wegen Persönlichkeitsverletzungen in zwei Ausgaben angeblich erzielt hatte. Mit diesem Entscheid habe das Bundesgericht die Anforderungen an den Kausalzusammenhang erheblich gelockert, schreibt das Zuger Kantonsgericht. Wenn es sich bei der Verletzerin um ein Boulevardmedium handle, müsse lediglich nachgewiesen werden, «dass die verletzende Berichterstattung zur Absatzförderung, das heisst zum Generieren und Halten der Auflage bzw. der Leserzahl, geeignet war».
In den «Blick»-Artikeln werde wiederholt die Frage aufgeworfen, ob es zwischen Spiess-Hegglin und ihrem Ratskollegen zum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Die Klägerin wird gemäss den Zuger Richtern wiederholt als mögliches Schändungsopfer dargestellt, und gleichzeitig werde jeweils implizit die Frage aufgeworfen, ob sie mit ihren medialen Ausführungen zur Landammannfeier eine aussereheliche Affäre habe kaschieren wollen. «Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass eine solche Berichterstattung an die Neugier des Publikums appelliert und auf die Bindung einer spezifischen Leserschaft zugeschnitten ist», heisst es im Urteil.
Die Argumentation des Ringier-Verlags, der den sogenannten Mehrgewinn durch die Artikel aufgrund seiner Geschäftszahlen auf maximal 4913 Franken bezifferte, lässt das Kantonsgericht nicht gelten. Die «Mehrgewinnmethode» des Unternehmens sei mit den vom Bundesgericht im erwähnten Leitentscheid definierten geringen Anforderungen an den Kausalzusammenhang nicht vereinbar.
Kritik an Ringier
In der Urteilsbegründung kritisieren die Richter das Verhalten von Ringier während des Prozesses. «Dem beklagten Unternehmen wäre es freilich offengestanden (bzw. es wäre gar geboten gewesen), der Gewichtung der Klägerin eine eigene Gewichtung gegenüberzustellen; dies hat es jedoch unterlassen», hält das Gericht fest. Ebenso habe es Ringier unterlassen, «sich mit den Überlegungen, von welchen sich die Klägerin leiten liess, substantiiert auseinanderzusetzen».
Obwohl das Zuger Kantonsgericht nur vier Artikel zu beurteilen hatte, äussert es sich auch zur Frage, ob es sich um eine Kampagne gehandelt habe. Das Kantonsgericht lässt offen, ob die Berichterstattung über Spiess-Hegglin als Serie oder als Kampagne zu qualifizieren sei. «Sie war auf jeden Fall geeignet, die Erwartungen des an Boulevard-Journalismus interessierten Lesers bzw. Abonnenten über längere Zeit zu befriedigen und ihn zu binden», heisst es in der Urteilsbegründung
Rena Zulauf, die Anwältin von Jolanda Spiess-Hegglin, bezeichnet das Urteil als «einen Meilenstein im Medienrecht». «Es bekräftigt den Rechtsgrundsatz ‹Unrecht darf sich nicht lohnen›.» Spiess-Hegglin selber zeigt sich glücklich, dass das Gericht ihrer Argumentation und den Herleitungen ihrer Gutachter gefolgt ist. «Gerade in einer imageverletzenden Auseinandersetzung mit der Medienbranche ist man froh, dass man sich auf die Schweizer Gerichte als zuverlässige Faktenchecker verlassen kann», sagt sie auf Anfrage der NZZ.
Die Gewinnherausgabe umfasse lediglich den Betrag, um den sich Ringier bereichert habe. «Es ist keine Entschädigung, kein Schadensersatz. Es ist schlicht und einfach die Herausgabe der illegal erlangten Mittel durch die Publikation von vier persönlichkeitsverletzenden Artikeln», erklärt Spiess-Hegglin. «Man hat es hier mit einer Artikel-Kampagne zu tun, die nie und nichts – aber auch gar nichts – mit Journalismus zu tun hatte. Es ging immer nur darum, auf unsere Kosten Geld zu machen», so die ehemalige Zuger Kantonsrätin.
«Medienfreiheit gefährdet»
Für Ladina Heimgartner ist der Richterspruch inakzeptabel. «Dieses Urteil gefährdet die Medienfreiheit in unserem Land», schreibt die CEO von Ringier Medien Schweiz in einer Stellungnahme. Journalistinnen und Journalisten würden unter diesen Vorzeichen das «Risiko» einer personenbezogenen Berichterstattung kaum mehr eingehen wollen. «Wenn dem Journalismus derartige ‹Strafzettel› blühen, werden Journalistinnen und Journalisten künftig zweimal überlegen, ob sie dieser Kernaufgabe wirklich konsequent nachkommen wollen», hält Heimgartner fest.
Der freie Journalismus sei eine wichtige Stütze der Demokratie und verdiene es, unter allen Umständen geschützt zu werden. «Mit dem vorliegenden Urteil des Zuger Kantonsgerichts bröckelt dieser Schutz», schreibt die CEO von Ringier Medien. Ringier werde das Urteil deshalb anfechten und ans Zuger Obergericht weiterziehen.
In ihrer Stellungnahme kritisiert Heimgartner, dass das Zuger Kantonsgericht die von Ringier offengelegten Geschäftszahlen und das eingereichte Gutachten von PwC weitgehend ignoriere. Dies entbehre jeglicher faktischen Grundlage. «Hätten wir 2014 (als das Online-Geschäft noch bei weitem nicht so entwickelt war wie heute) solche Gewinne erzielt, hätten wir heute keine Finanzierungskrise der Medien», schreibt Heimgartner.