Wir gratulieren
Jesse und Céline schlendern eine Nacht lang durch Wien, sind verzaubert voneinander und verlieben sich. Doch der Abschied naht. Ihre Geschichte berührt auch nach 30 Jahren – trotz Kitsch. Oder gerade deswegen.
Vor 30 Jahren, am 16. und 17. Juni 1994, hat sich nach der popkulturellen Erzählung die Begegnung zwischen Céline und Jesse, sie Französin, er Amerikaner, ereignet; ihr ikonischer Spaziergang durch Wien, der Zauber zwischen ihnen, das Werben und Philosophieren über Gott und die Welt, das Universum und die Venus von Botticelli, einen Tag lang und eine Nacht bis zum Abschied am Bahnhof mit dem Gelöbnis, sich sechs Monate später hier wiederzutreffen; Adressen getauscht haben sie nicht.
Der Film «Before Sunrise» (Kinostart 1995) lebte weniger vom Plot als von seiner traumwandlerischen Stimmung, die die Gemütslagen im Publikum spiegelte. Wer damals Anfang zwanzig war wie Jesse und Céline, suchend, zum Studium in Madrid, Paris oder Wien, frisch getrennt oder sowieso allein und ruhelos mit Signature-Lederjacken befasst, mit Slacker-Frisuren und Hipster-Bärtchen, die dem wahren Selbst endlich zum adäquaten Ausdruck verhelfen würden – der fand in Ethan Hawke und Julie Delpy zwei top Vorbilder und erschwang sich auch noch das Filmplakat.
Zwei, drei Kinobesuche, und man hatte den theoretischen Teil intus. Besonders auch die Szene kurz vor dem Abschied, als sich die beiden zur vielleicht weltschmerzhaltigsten von Bachs Goldberg-Variationen küssen, und danach, als die Kamera zu den verlassenen Schauplätzen zurückkehrt: Brücke, Albertina, Riesenrad, Friedhof der Namenlosen (dazu Viola-da-Gamba-Klänge).
Die Fortsetzungen lassen Romantiker weiterträumen
Regisseur Richard Linklater nannte sein Meisterwerk einen Lackmustest für die Romantik der Seele des Zuschauers: Denkt man, dass Jesse und Céline ihr Versprechen wahr machen und sechs Monate später zurückkommen, ist man Romantiker, wenn nicht, Zyniker. Die Frage bleibt offen. Doch irgendwann finden sich Jesse und Céline wieder (klar, nach dem Kassenerfolg!).
2004 lässt Linklater «Before Sunset» folgen, 2013 «Before Midnight», mit denselben Darstellern, gealtert mit ihren Figuren, die nun sogar Kinder zusammen haben; zwei weitere gute Filme. Nur dass das Leben aus dem Sommernachtstraum eine Sitcom und aus der Seelenverwandtschaft ein nostalgisches Zitat gemacht hat. Ob «Before Sunrise» beim Wiederschauen heute kitschig wirken würde? Aber hoffentlich doch!