Der 49-jährige Brite wird am Zurich Film Festival geehrt. Ein Gespräch über Rollenfindung, Improvisationslust und die letzten Geheimnisse.
Sein Gesicht gehört zu den markantesten im Filmgeschäft, seine Stimme sowieso: Benedict Cumberbatch lieh diese etwa dem Drachen Smaug, dem er damit in «The Hobbit» Leben einhauchte, ohne auf der Leinwand zu erscheinen. Nun prägt das unverkennbare Timbre des britischen Schauspielers (49) dieses Interview per Video-Call, obwohl er erkältet ist. Bald putzt er sich die Nase mit einem Papiertaschentuch, bald holt er eine Tasse Tee. Sonst lässt er sich nichts anmerken.
Viele halten Ihren Beruf für einen Traumjob. Könnten Sie diese Illusion für uns ein wenig zerstören?
Ich will den Idealismus nicht vernichten, den es braucht, um Träume zu verwirklichen. Aber als Präsident einer Schauspielschule in London könnte ich Ihnen Studierende vorstellen, die nun mit der Realität eines überlaufenen Arbeitsmarktes konfrontiert sind, oder zahllose talentierte Abgänger zeigen, die deshalb in anderen Branchen gelandet sind. Klar, ich habe es geschafft, und ich liebe diesen Beruf. Auch ich häufte jedoch während dieses Studiums Schulden an und konnte erst im fünften Berufsjahr mit Abzahlen beginnen. In diese sehr seltsame Branche einzusteigen, kann nicht nur kostspielig sein, sondern einen auch davon abhalten, sich selbst zu erkennen.
Kennen Sie das aus eigener Erfahrung?
Nur ein harmloses Beispiel: Meine Mutter merkte stets, wenn ich gerade eine «Sherlock»-Episode drehte. Denn wenn ich diesen unhöflichsten aller Superdetektive spielte, war ich auch privat kalt, schroff, emotional taub. Hirn und Mund arbeiteten schneller als sonst, aber mein Herz war viel weniger dabei. So verfolgte mich etwas von meiner Arbeit bis nach Hause, was ich normalerweise vermeide. Ich bin diesbezüglich sehr sensibel gegenüber meiner Familie.
Sie müssen sich manchmal richtig losreissen von einer Figur?
Ja. Irgendwann gewöhnt man sich an eine Rolle. Selbst wenn es viel Mühe gekostet hat, in sie hineinzufinden, wofür meist sehr wenig Zeit ist. Zumindest in den ersten Tagen des Drehs fühle ich mich wie ein Betrüger und leide unter der Angst, als solcher entlarvt zu werden, eine Art Imposter-Syndrom. Diese Unsicherheit kennen viele in diesem Beruf, manchmal überträgt sie sich auf ihre eigene Persönlichkeit.
Vor gut zwanzig Jahren verkörperten Sie den inzwischen verstorbenen Astrophysiker Stephen Hawking in einer BBC-Filmbiografie. Sie hatten ihn zweimal getroffen, um sich auf die Rolle vorzubereiten. Haben Sie dabei ständig sein Verhalten gescannt, um ihn möglichst gut imitieren zu können?
Durchaus. Er konnte sich schon damals wegen seiner Erkrankung kaum noch bewegen und nicht sprechen, aber in seinen Augen war dieses schelmische Funkeln. Die nonverbale Kommunikation war unerhört stark. In einem Raum mit ihm zu sein und sich zu fragen, ob das alles in Ordnung sein werde für ihn, war beängstigend. Aber ich hatte beim ersten Treffen das Gefühl, seinen Segen zu erhalten. Und dann kam er ans Set, und nach einer Szene hörte ich seine metallische Synthesizer-Stimme sagen: «Sehr gut, sehr realistisch!» Dieses Feedback war so wichtig für mich. Und es wuchs eine ganz besondere Verbindung, eine wunderbare Freundschaft.
Wie war Ihr Kontakt mit Julian Assange, den Sie 2013 in «The Fifth Estate» spielten?
Das war etwas ganz anderes. Der Film erzählt eine eigene Geschichte, auch von den internen Machtkämpfen, an denen Wikileaks scheiterte. Wir untergruben damit keineswegs das Ideal, mit einer anonymen Whistleblower-Plattform die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen. Und man sollte Julian dankbar sein für vieles, was er für die Meinungsfreiheit und den Journalismus getan hat. Die Welt braucht das dringender denn je. Am Abend vor Drehbeginn erhielt ich aber eine lange E-Mail von Assange. Er war wütend über unsere Darstellung, hielt sie für staatliche Propaganda und unterstellte, die Produktionsfirma werde von der US-Regierung dafür bezahlt. Er war sehr höflich, aber entschlossen, mein Engagement für den Film zu untergraben, auch mit moralischen Angriffen auf meine Beweggründe. Daraus erwuchs nicht gerade eine Freundschaft, aber eine Korrespondenz. Wer weiss, vielleicht treffen wir uns eines Tages und reden bei einem Kaffee darüber. Das wäre schön. Man fühlt sich mit den Figuren, die man spielt, irgendwie verbunden. Das kann auch für fiktive Personen gelten, etwa für Hamlet.
Sherlock Holmes ist Fiktion, aber so populär, dass er vielen real erscheint. Sie wurden berühmt, indem Sie ihn in einer BBC-Reihe als sozial inkompetentes Superhirn darstellten. Die Wortkaskaden, die Sie dabei ablieferten, sind unfassbar. Wie haben Sie die bloss geschafft?
Danke. Sie sind mir keineswegs immer auf Anhieb gelungen. Ich hatte gute Tage, aber auch schlechte und vieles dazwischen. Es gibt natürlich Momente, in denen ich bei Drehs an meine Grenzen stosse. Das ist ernüchternd, auch demütigend, und ich bin auf verständnisvolle Crewmitglieder angewiesen, die sagen: «Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.» Wirklich hart waren bei «Sherlock» vor allem jene Sprechszenen, die in einer einzigen Einstellung gedreht wurden. Da muss man perfekt vorbereitet sein, um im Tempo eines Maschinengewehrs zu reden. Wenn das Gehirn einen Moment lang ins Stocken gerät und Sie nicht schon an den nächsten Satz denken, während Sie den Satz aussprechen, an den Sie sich gerade erinnern, ist es vorbei. Und gleichzeitig musste das Ganze natürlich wirken.
Das klingt nach harter Arbeit.
Es setzt viel Lerneifer voraus. Und glauben Sie mir, ich brauche lange, um Dinge zu lernen. Ich arbeite dabei mit assoziativen Ansätzen, mit meiner eigenen Version der Gedächtnispalast-Methode oder Mind-Mapping. Bei «Sherlock» drehten wir 90-minütige Folgen innert vier Wochen, da büffelte ich jeden Abend. Es gab viele einsame Nächte in Hotelzimmern, in denen ich die Texte wieder und wieder durchging, ein Diktiergerät benutzte, Passagen zerlegte und wieder zusammensetzte, bis sie passten. Zum Glück habe ich viele geduldige Freunde, die mir halfen, einschliesslich Sophie, meiner heutigen Frau. Sie gingen mit mir Texte durch, im Studio, zu Hause, wo auch immer. O Gott, das klingt jetzt, als sei es reine Knochenarbeit gewesen. Dabei hat es auch viel Spass gemacht. So anstrengend die Rolle auch war, körperlich wie geistig, fühlte ich mich doch sehr lebendig dabei.
Wie oft schafft es eigentlich ein besonderer Moment ins Kino, der gar nie im Drehbuch stand?
Ah, das geschieht ständig. Auch bei «Sherlock»habe ich viele Details selbst erfunden, etwa dass er über den Tisch läuft, weil er keine Lust hat, um ihn herumzugehen. Seine ganze Körperlichkeit war auf gewisse Weise meine Erfindung, einige Tänze mit der Kamera, das Flattern des Mantels und andere Albernheiten. Allerdings komme ich nicht aus dieser amerikanischen Schule, bei der das Drehbuch nur als Ausgangspunkt gesehen wird. Für mich ist das Geschriebene sozusagen aus Gold.
Sie mögen keine Improvisationen?
Oh, doch, inzwischen liebe ich sie! Aber ich bin geprägt von der englischen Tradition, die sehr literarisch ist. Ich habe im Theater angefangen, und man spielt nicht mit Shakespeare herum. Da ist der Kanon heilig, die Schriftsteller sind die Chefs. Ich gehöre zu der Sorte Schauspieler, die bei der Adaption einer Romanvorlage stets das Originalbuch am Set dabei hat. So bleibt man in Verbindung mit dem Grund, weshalb man diesen Film überhaupt macht. Bei den «Avengers»-Drehs jedoch sah ich Robert Downey Jr. und Tom Holland ständig improvisieren. Sie nennen das «plussing», im Sinne einer Aufwertung des Skripts. Ich dachte: Wow, die spielen einfach! Und ich liess mich davon inspirieren. Als Doctor Strange nannte ich zum Beispiel in einer Szene Iron Man, der meine Figur zum x-ten Mal beleidigt hatte, aus dem Moment heraus einen Idioten. Nun gut, das war nur ein kleiner Moment, verglichen mit den Freiheiten, welche sich die beiden beim Spielen herausnahmen.
Sprechen Sie gerne öffentlich über eine Rolle und einen Film, um dafür zu werben, wenn er gerade herauskommt?
Ich kenne nicht viele Schauspieler, die das gerne tun, und ich bin da keine Ausnahme. Es ist sehr seltsam. Der Rummel, der sich oft um Nebensächlichkeiten dreht, entfernt einen weit vom Grund, warum man diese Arbeit macht. Und nach dem Dreh hat der Film lange geruht; es liegt grösstenteils in den Händen anderer, die Energie der Szenen und die Figuren zu entwickeln. Erscheint er dann im Kino, ist die Erfahrung der Dreharbeiten weit weg. Man erzählt vor den Medien seine Geschichten, kratzt sich am Kopf und fragt sich, ob es überhaupt Sinn ergibt, was man da sagt. Wenn man zu viel darüber redet, verliert das Werk seine Aura und sein Geheimnis, dessen Zutaten man selbst nicht recht kennt.
Am Zurich Film Festival präsentieren Sie «The Thing with Feathers», das Spielfilmdebüt Ihres Landsmanns Dylan Southern. Es geht um die Trauerarbeit einer jungen Familie, deren Mutter gestorben ist. Ich habe meinen 97-jährigen Vater vor wenigen Tagen verloren, es fällt mir etwas schwer, mit Ihnen über das Thema zu sprechen.
Mein Beileid für Ihren Verlust.
Danke. Ihre Mutter und Ihr Vater sind ebenfalls Schauspieler und verkörpern Ihre Eltern in der Rolle des Sherlock.
So ist es. Meine Mutter ist auch schon 90, mein Vater nicht weit davon entfernt.
«The Thing with Feathers», bei dem Sie als Hauptdarsteller wie auch als Produzent beteiligt sind, hat mich gerade in seiner Skurrilität berührt. Nur der Schluss mit dieser Strandszene am Meer war mir zu kitschig.
Fair enough. Ich überlege gerade, wie stark das Ende auf der Buchvorlage basiert, und kann mich nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls liefert der Stoff einen sehr düsteren Einblick in ein Thema, das uns alle betrifft, aber auf höchst ungewöhnliche Weise: witzig, erschreckend, ehrlich. Es ging um die Würdigung von Max Porters brillantem Roman «Trauer ist das Ding mit Federn». Der Film wurde mit sehr wenig Geld gedreht, und in meiner privilegierten Lage kann ich solch kleine Projekte unterstützen. Aber hören Sie, es tut mir sehr leid, ich muss los: Ich sollte drei Buben von der Schule abholen.
Selbstverständlich, Ihre wichtigste Aufgabe im Leben ist die des Vaters von drei Söhnen.
Ich freue mich aber sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass ich morgen Vormittag Zeit hätte, dieses Gespräch noch etwas weiterzuführen.
Sehr gerne.
Am nächsten Tag:
Hallo, Mister Cumberbatch, wie geht es Ihnen?
Ganz okay. Meine Erkältung ist langsam am Abklingen.
Sie stehen auch heute unter Stress, wie ich erfahren habe, so dass nur Raum für zwei weitere Fragen ist?
Ja, es tut mir sehr leid. Gestern ging ich noch davon aus, nun etwas mehr Zeit zu haben.
Wir sind bei Ihrem neuen Film stehengeblieben, «The Thing with Feathers». Wenn diese Frage zu persönlich ist, sagen Sie es einfach: Wie hat der Tod von Menschen, die Ihnen nahestanden, Ihre Beziehung zum Leben und zum Tod verändert?
Vielleicht ist das tatsächlich zu persönlich. Trauer ist immer persönlich und für jeden ganz anders, das ist typisch für sie.
Vor vier Jahren haben Sie Ihre Halbschwester verloren, die Künstlerin Tracy Peacock. Sie starb mit 62 Jahren an Krebs.
Was ich dazu zu sagen hätte, beträfe auch meine Nichte, meine Mutter, meinen Vater, und sie sind nicht im Raum. Max Porters Roman hatte mich zudem fasziniert, lange bevor meine Schwester starb. Ich habe mich nicht aus persönlicher Betroffenheit bei diesem Film engagiert. Er zeigt: Es gibt keine Zehn-Schritte-Anleitung für den Umgang mit dem Tod naher Menschen. Trauernde reagieren oft chaotisch, unerklärlich. Die Krähe, die immer wieder auftaucht, ist eine Manifestation der Gefühlszustände dieses Vaters in allen Facetten. Erlauben Sie mir, Ihre Frage auf eine universelle Ebene zu führen.
Gerne.
In irgendeiner Form sind wir alle im Leben mit Trauer konfrontiert. Verluste erfahren wir von der Kindheit an, es kann ein Spielzeug sein, das über eine Reling fällt und im Meer verschwindet, oder der Tod eines Haustiers. Und dann wird es immer realer, je älter man wird, nicht wahr? Wir sammeln diese Schichten von Erfahrungen. Eine davon ist, zu akzeptieren, dass inmitten der Schönheit des Lebens der Tod eine Realität ist. Allerdings sprechen wir kaum darüber, was das mit uns macht, wir wissen auch nicht, wie wir mit Menschen sprechen sollen, die das durchmachen. Ich glaube nicht, dass es viele Untersuchungen zur männlichen Form von Trauer gibt.
Was ist für Sie typisch männlich dabei?
Es ist zur Norm geworden, stark, selbstbewusst, gewalttätig zu sein, um seine Männlichkeit zu beweisen. Aber verloren, verletzlich, zerrissen zu sein, ist für mich die wahre Stärke. Wer nicht hinfällt, scheitert, verliert, kann als Mensch nicht wachsen, er erstarrt mit dem Rücken zur Wand. Ich fürchte nur, mit all dem habe ich Ihre ursprüngliche Frage nicht beantwortet.
Indirekt haben Sie das durchaus getan, danke. Meine letzte Frage ist weniger privat. Sie haben Ihr Gesicht einmal, in einer typisch britischen Kombination aus Humor und Understatement, mit dem eines Otters verglichen. Wenn Sie einen Film aus der Perspektive eines Tieres drehen könnten, welches wäre es?
Hm, die Frage gefällt mir. Die Tiere, die am leisesten sprechen, sind oft die wichtigsten. Und ihre Sichtweise könnte uns daran erinnern, dass wir endlich auf die Erde hören sollten. Für mich wäre es offenkundig einfach, einen Otter zu spielen. Als Landtier würde ich aber viel eher einen Schneeleoparden wählen, weil er so spirituell und ätherisch ist. Und im Wasser einen Blauwal, der diese universelle, uralte Weisheit in sich trägt. Darf ich eine Trilogie wählen? In der Luft . . . lassen Sie mich überlegen . . . einen Seeadler! Wir verbringen als Familie viel Zeit in einem Teil Englands, wo diese faszinierenden Vögel wiederangesiedelt worden sind. Zum Fischen fliegen sie Strecken, für die man mit dem Zug viele Stunden braucht. Was die alles sehen auf ihren Jagdausflügen! Schneeleopard, Blauwal, Seeadler: Das sind alles vom Aussterben bedrohte Wächtertiere, die in vom Aussterben bedrohten Landschaften leben.
Ich werde darauf hingewiesen, dass unsere Zeit um sei.
Moment, darf ich selbst noch eine Frage stellen? Was erwartet mich denn in Zürich, also an diesem Filmfestival? Wie wird der Raum aussehen, wie der Tag verlaufen?
Das kann ich Ihnen nicht so genau sagen. Ich glaube, dass Sie dort für Ihr Lebenswerk geehrt werden oder so.
Ich weiss, dieser Preis, der macht mich eben nervös. Es ist, als hörte ich meine Uhr ticken.
Das braucht Sie doch nicht nervös zu machen. Und Zürich ist nicht nur eine schöne, sondern auch eine sehr sichere Stadt.
Ich bin da gewiss bestens aufgehoben, ja, ich höre viel Gutes über diese Stadt. Ich habe sogar das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein, aber nur ganz kurz auf der Durchreise. Und ich werde auf mich aufpassen. Es wird schön werden.
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