In fünf Tagen mit den Skis vom Allgäu ins Südtirol – das braucht Ausdauer und in Zeiten steigender Temperaturen auch Anpassungsfähigkeit.
Als wir am zweiten Tag die Ski anschnallen, bellt ein Bernhardiner. Er heisst Barry, lebt in Österreich und gehört der Wirtin des Berghotels am Körbersee. Die Tannen am Arlberg sind frisch verzuckert, der Widderstein ragt wie ein Wahrzeichen in den Winterhimmel. Eine Flanke ist so steil, dass kein Schnee am grauen Fels haftet. Die schroffe Wand erinnert an den Eiger. Im Tal mäandert ein Bach als dunkles Ornament durch die strahlend helle Fläche.
Der Kontrast zu gestern könnte nicht grösser sein. Wir starteten in Oberstdorf im Allgäu. Der Bergführer prüfte gewissenhaft, ob jeder seinen Lawinenpiepser eingeschaltet hatte. Doch im Kleinen Walsertal lag kein Schnee, es regnete. Der Bergführer zeigte, wie man die Ski zwischen Rücken und Rucksack klemmt. Wir stapften schicksalsergeben in Skistiefeln einen Schotterweg hinauf, überquerten stumm einen Bach. Irgendwann gab es im Schutz einer knorrigen Tanne die erste Trinkpause. Der Regen färbte sich langsam weiss. Der Bergführer versuchte sich in Hoffnung. «Das ist ein gutes Zeichen», sagte Korbinian Schmittlein, «morgen sind wir den ganzen Tag höher unterwegs. »
Wir sind sechs Männer, die sich vorher nicht gekannt haben. Sicher geführt, wollen wir die Alpen mit Tourenski überqueren. In fünf Tagen im April durch das europäische Zentralgebirge und vier Länder: Deutschland, Österreich, die Schweiz und Italien. Vom Allgäu über den Arlberg und die Silvretta durchs Engadin ins Vinschgau. Jeder trägt im dicken Rucksack alles, was er für diese spezielle Winterreise braucht: dicke und dünne Handschuhe, Lawinenschaufel und Sonde, warme Wechselkleidung und Harscheisen.
Passt dieses Abenteuer noch in die Zeit der warmen Winter? Die Gipfel am Alpenhauptkamm sind vermutlich noch weiss. Aber was erwartet uns in den Tälern? Sind alle nass und schneefrei?
Durch federleichten Pulverschnee
Die Alpen sind kein unberührtes Gebirge. Die Zivilisation hat den Arlberg in ein riesiges Skigebiet verwandelt. Es wäre mühsam, einen Weg durch menschenleere Natur zu suchen. Korbinian passt sich den Verhältnissen an und bietet uns eine bequeme Variante. Er sagt: «Heute machen wir einen Freeride-Tag.» Bergauf nehmen wir die Lifte, talwärts führt er uns abseits der präparierten Pisten durch federleichten Pulverschnee.
Wir tanzen geradezu talwärts. Fühlen uns denen überlegen, die auf präparierte Pisten angewiesen sind. Entdecken eine Heuhütte, die fast im tiefen Schnee eines Windkolks verschwindet. Das Dach präsentiert eine weisse Skulptur.
Unten in Lech spottet Korbinian: «Letzte Chance zum Champagnerfrühstück.» Er zeigt zur Luxusvariante einer Schirmbar: Flaschen in den Grössen Magnum bis Methusalem sind wie Trophäen aufgereiht. Der junge Fluss plätschert, eine Bühne wird für ein Live-Konzert aufgestellt. Lech am Arlberg ist mit Sylt an der Nordsee verpartnert, deshalb steht vor dem Juwelier an der Dorfstrasse ein Strandkorb. Mathias schmiert Sonnencrème nach.
Man kann die Alpen auf unzähligen Routen überqueren. Harte Bergsportler wählen einsame Couloirs und bauen schwierige Gipfel ein. Im Sommer verspotten sie den beliebten Fernwanderweg E5 als Autobahn für Fussgänger. Gar nicht satisfaktionsfähig sind in ihren Augen die Komfortwanderer: Sie lassen ihr Gepäck transportieren, übernachten in Hotels im Tal statt in Hütten am Berg. Der Winter schränkt die Möglichkeiten ein. Korbinian hat eine Variante gewählt, die auch bei nicht so günstigen Schneeverhältnissen möglich ist. Er sagt: «Unsere Tour kann man vom Hochwinter bis ins Frühjahr gehen. Und sie bietet Ausweichmöglichkeiten.» Gewissenhaft studiert er jeden Morgen den Lawinenbericht.
Münzen zum Duschen, 590 Euro für den Wodka
Am dritten Tag zeigt sich, was er meint. Ursprünglich wollten wir von St. Anton durch die Rossfallscharte und über das Lattejoch ins Paznaun. Doch Korbinian sah am ersten Tag, wie wir uns im Allgäu mit Spitzkehren abmühten. Sein Urteil fiel hart aus: «Diese Gruppe ist nicht die filigranste im Aufstieg.» Wir sind zu langsam, um die Heidelberger Hütte bis zum Abend zu erreichen. Also nutzen wir die Zivilisation und nehmen den Kleinbus von St. Anton nach Ischgl.
Der Ort wirkt am frühen Nachmittag wie ausgestorben. Ohne Skigäste erscheint die Kulisse des Massentourismus noch krasser. Das Hotel neben der grossen Gondel heisst «Ferienglück». Daneben lockt der «Kuhstall» mit dunklem Holz im Pseudo-Alpenstil. Ein halbes Dutzend Gäste sitzt schon um 14 Uhr beim Après-Ski. Die Dreiliterflasche Wodka steht für 590 Euro auf der Karte, ohne «Beigetränke». Marc sagt mit Grausen: «Das ist doch ein Proletendorf.»
Uli aus Ulm hat vor ein paar Jahren schon einmal die Alpen im Winter überquert. Von Ischgl stieg er durch das Fimbatal auf, für das letzte Stück holte ihn der Wirt der Heidelberger Hütte mit dem Motorschlitten ab. Inzwischen hat man das riesige Skigebiet von Ischgl um die Seilbahn auf den Piz Val Gronda erweitert. Freerider fahren von dort durch das Fimbatal ab, seither darf der Hüttenwirt seine Gäste nicht mehr mit dem Skidoo abholen. Also nehmen auch wir die komfortable Kabine auf den Piz Val Gronda. «Die ist grösser als mein Wohnzimmer», sagt Uli beeindruckt.
Von der 2800 Meter hohen Bergstation tasten wir uns durch Nebel zur höchstgelegenen Unterkunft unserer Tour. Korbinians gelbe Jacke und Marcs orangefarbene helfen dabei. Die Heidelberger Hütte, 1889 erbaut, liegt 2260 Meter hoch und bietet 118 Schlafplätze.
Die Dusche ist sauberer als manche im Tal, drei Minuten kosten 2 Euro, das Wasser ist so heiss, dass man sich beinahe verbrüht. Das Abendessen beginnt mit einem Gruss aus der Küche, einem frittierten Reisbällchen mit Paprikasösschen, und endet mit Erdnussbrownies, dazu gibt’s Zwetschgenkompott, alles frisch gekocht ohne industrielle Fertigprodukte.
Die niedrige Stube hat einen grünen Kachelofen, rot-weiss karierte Vorhänge und keinen Handyempfang. Die Stimmung ist aufgekratzt, lebhafte Gespräche mischen sich unter den Balken der niedrigen Decke.
Ab März braucht es zusätzlich Bergstiefel
Korbinian ist erst Anfang dreissig. Wie sieht er seine Zukunft als Bergführer? Wird er auch in zehn Jahren noch im Winter die Alpen überqueren? «Meine Gäste müssen flexibel sein. Und ich auch. Wer für den März eine Skitour bucht, muss vielleicht auch die Bergstiefel einpacken. Oder mit mir zum Klettern an den Gardasee ausweichen.» Um den Schnee in höheren Lagen sorgt er sich nicht. Der Terminkalender ist das Problem: «Wer nicht an eine bestimmte Woche gebunden ist, dem kann ich auch in Zukunft bleibende Wintererlebnisse bieten.»
Korbinian ist lang und dünn wie ein Skistock. Im Sommer arbeitete er schon in Zermatt und führte fünf Tage hintereinander fünf Gäste aufs Matterhorn. Er scheint keine Erschöpfung zu kennen. Doch aus dem Klimawandel hat er eine Konsequenz gezogen: Mit seiner Freundin vereinbarte er, dass er in den Westalpen nur noch bis zur ersten Augustwoche führt. Danach steigt die Steinschlaggefahr in der Hitze zu stark.
Wind aus der Wüste
Am nächsten Morgen leuchten vor dem Hüttenfenster tief verschneite Berge in zartem Blau. Schwarze Dohlen segeln im Aufwind. Eine junge Frau aus Österreich tritt vor die Tür und sagt ergriffen: «Dös is a Paradies.» Frühstück gibt’s von sieben bis acht. Auf dem Buffet steht frisches Birchermüesli, aber auch hausgemachter Hummus. Dann brechen wir zur Königsetappe auf.
Diese führt leicht ansteigend durch die Weite des Hochgebirges. Der Wind hat Schuppen in den Schnee geblasen, als ob ein Riesenfisch am Alpenhauptkamm gestrandet wäre. Korbinian zieht eine Spur, wir folgen in meditativem Schweigen. Der Wind schläft, die Sonne steht im Osten, sechs Männer werfen lange Schatten auf silberglänzende Kristalle. Ein paar hundert Meter weiter rechts überholt uns eine Gruppe – das müssen die Norwegerinnen von gestern Abend sein, man sieht’s an den Farben ihrer Skihosen: Türkis, Lila, Orange. In langsamem Glück bewegen wir uns auf den Horizont zu.
Der markante Gipfel heisst Breite Krone. Dann erreichen wir den höchsten Pass unserer Tour: die Fuorcla da Tasna, 2835 Meter. Wir setzen uns auf die Ski, holen Brot und Thermosflasche aus dem Rucksack, die Ötztaler Alpen dekorieren unseren Pausenraum. Bei der Abfahrt ins Engadin sehen wir gewaltige Wechten. Die grösste hängt über den Grat wie eine Woge, die zu brechen droht. Parallel zum Kamm ist sie von einem roten Streifen durchzogen. Der besteht aus Saharastaub, den der Wind im März in die Alpen geblasen hat.
In der Höhe spielt die Nullgradgrenze eine untergeordnete Rolle
Seither hat es noch einmal 20 Zentimeter geschneit – so viel Weiss liegt über der roten Linie. Das passt zu einer Meldung aus Davos: Der Klimatologe Christoph Marty vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) hat den Winter 2023/2024 mit dem von 1974/1975 verglichen und markante Gemeinsamkeiten festgestellt. Auch vor 50 Jahren, als noch niemand vom Klimawandel sprach, mussten die Skifahrer lange auf den Schnee warten.
Anfang April fielen in sechs Tagen bis zu 270 Zentimeter. «Ich war selbst überrascht», sagt Marty. Die Nullgradgrenze ist gestiegen, der vergangene Winter war wärmer als der vor 49 Jahren – warum ist im Frühjahr so viel Schnee gefallen? Er will das genauer untersuchen, eine erste Antwort hat er schon: «Auf 2500 Metern spielt die Temperatur eine untergeordnete Rolle, da ist es im Winter meistens kalt genug für Schneefall.»
Unten in Scuol tauchen wir in das Licht des Südens. Wir überqueren die Schienen der Rhätischen Bahn, und Marc staunt, wie schön ein Bahnhof sein kann. Der Frühling schickt seine Wärme, Stefan zieht die Mütze ab und lässt sein Gesicht bräunen. Aber dann wird’s nochmals kalt. Am Rand des Schweizer Nationalparks liegt das enge Val S-charl tief im Schatten.
Die schmale Strasse neben dem Schottergeschiebe des Bachs ist für Autos gesperrt. Ein Pferdefuhrwerk bringt uns in eine Bergarbeitersiedlung, die im Mittelalter am Ende der Welt angelegt wurde. «Seit dem Lawinenwinter 1951 sind wir nur noch ein Sommerdorf», sagt Dominique, der Wirt vom Gasthaus Mayor.
Sein Vater hat in den siebziger Jahren wieder den Winterbetrieb gewagt, die zwölf anderen Häuser von S-charl sind verrammelt. Bei Dominique stellen wir die Ski in einen Holzschuppen, hängen die Felle zum Trocknen ans Treppengeländer und zwängen uns in die Saunahütte. Dann fallen wir in der Gaststube über Rindsgeschnetzeltes her.
Mit den Tourenski geht es durch die unberührte Landschaft des Engadins, wo Gipfel und weite Schneefelder eine beeindruckende Kulisse für die anspruchsvolle Skitour erschaffen.
Die Alpen von ihrer schönsten Seite
Auf der letzten Etappe zeigt der Schnee, welch verschiedene Gesichter er hat. Um acht am Morgen ist er bretthart gefroren, unsere Stahlkanten klappern. Die Almwiesen hat er mit weissem Satin bespannt, den Bach hat er in eine Galerie verwandelt, auf jedem Felsen zeigt er eine andere Skulptur. Als es wärmer wird, hämmert ein Specht gegen einen Baum. Rechts oben am Hang hat sich kürzlich eine Lawine gelöst. Sie zog eine grobe Spur der Vernichtung ins flache Tal. Der Lawinenkegel ist mehrere hundert Meter lang, am Ende liegen gefrorene Schneebrocken noch brusthoch.
Auf dem S-charl-Joch ziehen wir die Felle ab. Die Italiener nennen diesen Übergang Cruschetta. Die Alpen zeigen sich noch einmal von ihrer schönsten Seite: Vor uns ragt der Ortler imposant in den Winterhimmel. Seine Flanken leuchten weiss, als gäbe es keine milden Winter. Eine Wolke schwebt schützend über dem Berg.
Mathias blickt zurück und sagt: «Gut, dass uns der erste Tag so richtig erwischt hat – das hat den nötigen Respekt vor der Tour geweckt.» Dann fahren wir ab, solange der weiche Schnee reicht. Wir überqueren noch einen Bach. Wir fürchten, die groben Steine könnten unsere Stahlkanten beschädigen, aber Korbinian zitiert lässig seinen Vater: «Ein Tourenski ist keine Langspielplatte!»
Im Vinschgau werden wir wieder zu Fussgängern. Wie zu Beginn im Allgäu klemmen wir die Ski zwischen Rücken und Rucksack. Die Wiesen leuchten frisch grün. Die Bauern haben schon gedüngt, man riecht es. Der Bergführer gibt eine letzte Anweisung: «Schauts, dass keiner mehr als 50 Krokusse zertrampelt.»
Gut zu wissen
Die beschriebene, fünftägige Tour von Oberstdorf nach Taufers im Münstertal bedingt sicheres Skifahren in allen Schneearten und die Kondition für tägliche Aufstiege bis 1200 Höhenmeter.
Diese Reportage wurde möglich dank der Unterstützung von Oase Alpin.