Ein italienischer Publizist glaubt nicht an die offizielle Version von Camus’ Tod. Lieber spricht Giovanni Catelli in verschwörungstheoretischer Manier von einem Komplott und behauptet, Beweise zu haben.
Das Bild des förmlich um die Platane gefalteten Autos hat sich ins Gedächtnis eingebrannt. Mit hoher Geschwindigkeit war das ausser Kontrolle geratene Fahrzeug gegen eine Platane geprallt und anschliessend wie ein Spielball gegen einen zweiten Baum geworfen worden. Albert Camus auf dem Beifahrersitz des luxuriösen Facel Vega muss auf der Stelle tot gewesen sein.
Camus erlitt einen Schädel- und einen Halswirbelbruch. Am Steuer sass sein Freund Michel Gallimard, der Neffe und Ziehsohn seines Verlegers. Er überlebte den Unfall mit schweren Verletzungen und starb fünf Tage später in einem Pariser Krankenhaus. Im Fond sassen dessen Frau und dessen Tochter. Beide waren aus dem Wagen geschleudert worden und erlitten einen Schock, doch kaum nennenswerte Verletzungen.
War es ein stupider, fataler Autounfall, wie er auf Europas Strassen täglich zu Dutzenden geschieht und geschah? Überhöhte Geschwindigkeit und ein geplatzter Reifen: So lautete die Version der Gendarmerie.
Der italienische Publizist Giovanni Catelli behauptet seit über zehn Jahren, es sei Mord gewesen. Und er habe Beweise für seine These. Nun ist sein Buch, in dem er den Fall aufzurollen vorgibt, auf Deutsch erschienen. «Camus muss sterben» wäre ein guter Krimi. Aber Catelli meint es ernst. Er zweifelt nicht daran, dass Camus auf Befehl von ganz oben sterben musste.
Es ist ein Fall von höherem Wunschdenken. Das Idol kann nicht einen banalen Tod gestorben sein. Der Heros muss ermordet worden sein. Und zwar vom KGB, angeordnet aus dem innersten Moskauer Machtzirkel. Denn Camus war den Herren im Kreml mit seiner unerbittlichen Kritik zu nahe getreten. Er sei, so Catelli, eine Gefahr geworden für die Sowjetunion, also habe er, so schliesst er messerscharf, beseitigt werden müssen. Erst dieses grausame Schicksal vollendet in den Augen seines Bewunderers die Biografie des Unvollendeten.
«Merde!», ruft Gallimard
Es war früher Nachmittag am 4. Januar 1960. Am Vortag war Camus mit den Gallimards im südfranzösischen Lourmarin, wo sie die Feiertage im Ferienhaus des Schriftstellers verbracht hatten, aufgebrochen. Am zweiten Tag ihrer zunächst gemächlichen Rückfahrt nach Paris machten sie mittags noch einmal eine Pause. Dann schien es Camus plötzlich eilig zu haben. Er drängte, er hatte sich für den Abend mit seiner Geliebten Maria Casarès verabredet. Das Ziel war nicht mehr fern. So fuhr man los, und Michel Gallimard erhöhte das Tempo.
Auf der Höhe des Weilers Petit Villeblevin säumten Platanen die breite, schnurgerade Strasse. Ein Zeuge sagte gegenüber der Polizei aus, er sei an der Stelle von dem leistungsstarken Wagen mit etwa 150 Kilometern in der Stunde überholt worden. Und Gallimards Frau glaubte sich später zu erinnern, dass ihr Mann unvermittelt «Merde!» gerufen habe. Darauf sei der Wagen ins Schlingern geraten, ehe er gegen die eine und schliesslich gegen die zweite Platane geprallt sei. Beim Zusammenstoss müssen gewaltige Kräfte auf den Wagen eingewirkt haben. Der vordere Teil der Karosserie wurde komplett vom hinteren abgetrennt und zerstört. Die Trümmerteile lagen über eine grosse Fläche verstreut.
Die genaue Unfallursache konnte nicht ermittelt werden. Ein Hinterreifen wies starke Beschädigungen auf. Ebenso war der Asphalt auf einer längeren Strecke von einem harten Gegenstand aufgerissen worden. Man mutmasste, dass ein geplatzter Reifen oder eine gebrochene Achse zum Unfall geführt habe.
Attacken gegen die Sowjetunion
Albert Camus war 46 Jahre alt. Drei Jahre zuvor hatte er den Nobelpreis für Literatur erhalten. Er zählte zu den bekanntesten Schriftstellern und Intellektuellen Frankreichs. Er war weniger dogmatisch als Jean-Paul Sartre, und er hatte früher als dieser die Gefahren erkannt, die vom Kommunismus ausgingen. Die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn durch die sowjetischen Truppen verurteilte er mehrmals in Reden und Artikeln aufs Schärfste.
Darin griff er die sowjetische Regierung an und attackierte namentlich Aussenminister Dmitri Schepilow. Albert Camus hatte den Faschismus erlebt, er ahnte, dass die Freiheit und die Würde des Menschen die ersten Opfer dieser neuen totalitären Dämonen sein würden. Im Überfall auf Ungarn erkannte er ein Fanal des Kommenden. Der Kommunismus hatte seine wahre Fratze zur Kenntlichkeit gebracht.
Sollten Camus’ harte Attacken die Sowjets derart in Rage versetzt haben, dass sie glaubten, ihn zum Schweigen bringen zu müssen? Giovanni Catelli ist davon überzeugt, seit er in den Tagebüchern des tschechischen Schriftstellers und Übersetzers Jan Zábrana auf eine Passage gestossen ist, in der genau dies behauptet wird. Zábrana will von einem Informanten, den er namentlich nicht nennt, erfahren haben, dass Schepilow persönlich beim KGB Camus’ Ermordung in Auftrag gegeben habe. Zu diesem Zweck sei an einem Hinterrad von Gallimards Wagen eine Vorrichtung angebracht worden, die bei hoher Geschwindigkeit den Reifen beschädigen würde.
Mehr konnte Catelli nicht in Erfahrung bringen, auch nicht von der Witwe Zábranas. Niemand kennt den anonymen Informanten. Zábrana spricht in seinem Tagebuch lediglich von «einem Mann, der viele Sachen weiss, der Quellen hat, von denen er sie wissen kann». Catelli gibt sich damit zufrieden. Denn nun hat er die Bestätigung dafür gefunden, dass nicht sein konnte, was er nicht glauben wollte: dass Camus bei einem Verkehrsunfall ohne Fremdeinwirkung sinnlos zu Tode gekommen sein soll.
Das Schicksal habe, so schreibt er in seinem Buch, «eine Spur zutage» gefördert. Daraus wird noch im gleichen Satz zuerst «ein unerwartetes Zeugnis» und dann gleich «der harte Beweis, der die Zeiten überdauerte». Die Sowjets hatten den Eindruck erwecken wollen, Camus sei Opfer eines Unfalls gewesen. Für Catelli steht ausser Frage, dass mit Zábranas Tagebucheintrag das Täuschungsmanöver enttarnt und «ein fernes Komplott enthüllt» worden sei.
Catelli mag sich nicht mit Kleinlichkeiten aufhalten. Dass eine Tagebuchnotiz keinen «harten Beweis» darstellt, kümmert ihn wenig. Ebenso grosszügig sieht er darüber hinweg, dass Schepilow bereits im Februar 1957, also drei Jahre vor dem tödlichen Unfall und nach nur neun Monaten, seines Amtes wieder enthoben worden war. Drei Jahre habe der KGB eben gebraucht, so Catelli, bis die Umstände für den Mord an Camus günstig gewesen seien.
Dann weiss Catelli auch, und natürlich entgeht ihm der Widerspruch, den er sich mit seinem Pathos einhandelt: «Er musste gestoppt werden. Egal, wie.» Glaubt Catelli tatsächlich, der KGB habe drei Jahre gebraucht, um Camus zu stoppen, wenn es doch egal war, wie es geschehen würde?
Die Nacht der gewetzten Waffen
Mit Fragen nach der Plausibilität seiner Beweisführung mag sich Catelli nicht aufhalten. Lieber mutmasst er im Stile eines zweitklassigen Krimiautors über sinistre Figuren und dunkle Machenschaften. Wo er die Route von Lourmarin nach Paris beschreibt, fügt er in raunendem Ton hinzu, als sei er dabei gewesen: «Jemand begleitet sie, ganz still, ohne aufzufallen. Die Reise ist noch sehr lang, die Möglichkeiten, aktiv zu werden, sind noch vielfältig.»
Dann kommt die Nacht vom 3. auf den 4. Januar, die die kleine Reisegruppe in Thoissey verbringt. Darüber berichtet der Autor in der fingierten Rolle des Augenzeugen Folgendes: «Die Nacht würde lang sein in dem kleinen Ort, und nicht alle sollten schlafen. Die Reisenden sind ahnungslos und fröhlich. (. . .) Die geheimen Gesetze der Welt, ihre gewetzten Waffen scheinen weit weg. Der Zugriff der Macht auf die einzelnen Geschicke ist noch unsichtbar, weit entfernt, unwirklich. Überlassen wir die Männer und Frauen ihren letzten Stunden der Unbeschwertheit.»
Catellis Strategie lässt sich leicht durchschauen: Wo die Fakten nicht ausreichen – was meistens der Fall ist –, hilft er entweder mit seiner überhitzten Phantasie nach, oder er spült alle Zweifel mit pathetischen Ergüssen weg. So schreibt er zu Beginn: «Vielleicht hat tatsächlich jemand Albert Camus’ Tod beschlossen.» Die zögerliche Formulierung klingt vernünftig, doch sie erweist sich als ein rein taktisches Manöver. Ein paar Zeilen später heisst es: «Die nackte Wahrheit über die Ereignisse soll unseren Nachfahren bekannt sein.» Mit weniger als der «nackten Wahrheit» gibt sich Catelli nicht ab. Doch die auftrumpfende Worthülse kann nicht verbergen, wie fadenscheinig die Beweislage ist.
Hat der KGB Albert Camus umgebracht? Auszuschliessen ist es nicht. Der russische Geheimdienst beging damals zahlreiche Morde an Kritikern und Überläufern. Aber alles spricht gegen Giovanni Catellis verschwörungstheoretisches Konstrukt, angefangen bei den Unwägbarkeiten eines derart umständlich vorgetäuschten Unfalls. Es ist nicht anzunehmen, dass der KGB bei einem Mord, für den man sich drei Jahre Zeit genommen hatte, so viel dem Zufall überlassen hätte.
Der schwerwiegendste Einwand gegen Catelli indessen ist: er selbst. Wer so viel schwülstigen Kitsch aufbieten muss für ein so dürftiges Büchlein, dem fehlt es ganz offensichtlich an allem, was hier allein zählen würde: Genauigkeit der Recherche, Nüchternheit des Berichts, vor allem jedoch Fakten. Stattdessen speist er die Leser mit Mutmassungen ab, die er für «nackte Wahrheiten» ausgibt.
Giovanni Catelli: Camus muss sterben. Aus dem Italienischen übersetzt von Carsten Drecoll. Emons-Verlag, Köln 2023. 160 S., Fr. 19.90.