In seinem neuen Roman besichtigt der deutsche Schriftsteller noch einmal seine Kindheit. Das Ergebnis ist ernüchternd.
Da waren wir schon einmal. In einem kleinen Dorf in der Nordeifel zwischen Köln und Aachen, wo der Schriftsteller Michael Lentz 1964 geboren wurde. In kleineren oder grösseren Texten unternimmt er immer wieder neue Anläufe, sein Elternhaus und seine Kindheit heraufzubeschwören. Er tat es in der Erzählung «Muttersterben», für die Lentz 2001 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, oder in dem Tausendseitenrequiem «Schattenfroh» (2018). Und zugleich weiss Lentz, dass dieses Unterfangen nie an ein Ende kommen kann, dass permanent neue Erinnerungspartikel aus dem Dunkel des scheinbar Vergessenen hochgeschwemmt werden.
Auch in seinem neuen Roman zieht es Lentz «heimwärts», wie der Titel verheisst. In dreissig Kapiteln, die Überschriften tragen wie «Zettel», «Parfum», «Ferien» oder «Schule», begibt sich ein Ich-Erzähler, den man ohne grössere Bedenken mit dem Autor gleichsetzen kann, in den «Glaskasten der Erinnerung» und breitet mit ungeheurer Detailfreude aus, woraus sich seine frühen Jahre zusammengesetzt haben.
Ausgangspunkt ist eine geheimnisvolle Truhe, was kein besonders originelles Motiv ist, die der Erzähler heimlich öffnet. Seine Fundstücke – ein Portemonnaie, eine Ballerinafigur, ein Geschirrset – bieten reichlich Anlass zu minuziösen Beschreibungen und münden in Kindheitsepisoden, die in einem düsteren, beklemmenden Elternhaus verankert sind. An einen familiären «Überwachungsstaat» erinnert sich der Erzähler, dominiert von einem häufig abwesenden Vater, einem «Impulsprügler». An seiner Seite agiert eine überforderte, von Depressionen heimgesuchte Mutter, die ihren Dienst in der «Tretmühle Alltag» klagend verrichtet.
Nichts darf nach aussen dringen
Wir blicken auf eine wohlsituierte Familie, die vom Wirtschaftswunder profitiert und sich dieses und jenes leisten kann. Man schafft sich stattliche Fernseher an, spricht dem seinerzeit sehr beliebten Rotweinverschnitt «Amselfelder» eifrig zu und feiert Partys, bei denen dichter Zigarettenqualm alles durchzieht. Inmitten dieses Gefüges steht der Erzähler, der sich alleingelassen fühlt, Mordphantasien entwickelt, Selbstgespräche führt, sich in einen Hobbyraum zurückzieht, Insektengefängnisse baut, Teddybären und Puppen als Ersatzeltern sieht und Eishockeypartien nachspielt.
Nichts von dem, was ihn bewegt, darf nach aussen dringen; es geht um das Verheimlichen – eine Schlüsselvokabel des Textes –, das es ermöglicht, sich aus dem schrecklichen Familienkosmos auszuklinken: «Mich den Eltern zu entziehen, ihnen das Kind zu nehmen, das sie sich, aber nicht ihm selbst gegeben haben.»
Wer im Westdeutschland der 1960er und 1970er Jahre aufgewachsen ist, stösst in «Heimwärts» auf einen gut gefüllten Setzkasten zeittypischer Objekte und Rituale. Ob es um Fernseher, Kaleidoskope, Kaffeekränzchen oder Dampfentsafter, die in einem mühsamen Prozess Quittengelee hervorbringen, geht – der Erzähler will sich an alles erinnern. Und wer an Michael Lentz, der als Laut- und Performancedichter bekannt wurde, den virtuosen Umgang mit Sprache schätzt, darf ebenfalls fündig werden.
All das, was «Heimwärts» an eindrücklichen Vergangenheitsbildern liefert, täuscht nicht darüber hinweg, dass es sich um ein durch und durch misslungenes Buch handelt, dessen Erinnerungsfuror schnell für Ermüdung, ja Verärgerung sorgt. Welche Dringlichkeit den Autor antreiben mag, ein weiteres Mal die Nordeifel und sein altes Zuhause zu besichtigen, erschliesst sich dem Leser nicht.
Kein roter Faden zieht sich durch diesen Roman, keine Struktur prägt ihn. Stattdessen stellt sich der Eindruck ein, dass die Kisten und Schachteln, die der Erzähler anfangs öffnet, wahllos ausgeleert und nach dem Salzstreuerprinzip auf die Kapitel verteilt werden. Die Besessenheit des Autors löst kaum Anteilnahme beim Leser aus.
Ein doppelter Vater-Sohn-Roman
Zu dieser Strukturlosigkeit kommt ein weiterer Schwachpunkt hinzu: Michael Lentz belässt es nicht dabei, sein Alter Ego in die Welt von gestern eintauchen zu lassen und diese zu kommentieren. Er schafft eine zweite Erzählerfigur, bei der es sich offensichtlich um den Sohn des Erzählers handelt. Diese neue Stimme mischt sich gelegentlich ein und befragt den Vater so, wie dieser seine Eltern nie befragt hat.
Das hätte eine raffinierte Doppelung, einen quasi zweifachen Vater-Sohn-Roman ergeben können. Doch leider bleiben diese Passagen willkürliche Einsprengsel, die unglückseligerweise dazu führen, dass wir kurzzeitig in der Gegenwart ankommen, im Krieg in der Ukraine und im Gazastreifen. Warum, das bleibt ein Rätsel.
Als Lentz’ Erzähler den Truheninhalt ausbreitet, geht es, wie seine Mutter zu sagen pflegte, «drunter und drüber». «Sollten die Dinge doch erst mal daliegen und sich kennenlernen», räsoniert das betrachtende Kind – und gibt damit unfreiwillig das Erzählprinzip dieses Romans preis: «Heimwärts» ist ein Drunter-und-drüber-Text, in dem alles irgendwie «daliegt».
Michael Lentz: Heimwärts. Roman. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 304 S., Fr. 33.90.