Viele Pensionierungen, weniger Junge: 2035 könnten in der Schweiz laut einer neuen Studie massenweise Vollzeitbeschäftigte fehlen. Die Arbeitgeber versprechen, das inländische Arbeitskräftepotenzial besser auszuschöpfen. An einer weiteren Zuwanderung führt aus ihrer Sicht aber kein Weg vorbei.
Viel Arbeit – aber niemand da, der sie erledigen kann. Die Wirtschaft deshalb im Niedergang. Das ist das Horrorszenario der Schweizer Arbeitgeber. Tatsache ist: Das Angebot an inländischen Arbeitskräften wird sich in den nächsten Jahren reduzieren. Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer werden pensioniert. Die Generation Z rückt in lediglich reduzierter Mannschaftsstärke nach.
Die Sorgen wegen eines Fach- und Arbeitskräftemangels sind nicht neu. Grundsätzlich hätten die Arbeitgeber immer gerne mehr potenzielle Arbeitnehmer zur Auswahl. Erstens steigt damit die Wahrscheinlichkeit, einen perfekten Bewerber zu finden. Zweitens ist die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer kleiner und der Druck zum Zahlen höherer Löhne geringer. Klagen der Arbeitgeber über einen Fachkräftemangel sind deshalb immer auch mit Vorsicht zu geniessen.
460 000 Vollzeitbeschäftigte fehlen
Nichtsdestoweniger ist klar, dass die Wirtschaft Arbeitskräfte braucht, um Wohlstand schaffen zu können. Dank der Personenfreizügigkeit können Stellen in der Schweiz weitaus besser besetzt werden, als dies bei geschlossenen Grenzen der Fall wäre. Doch die damit verbundene Zuwanderung beschäftigt und beunruhigt die Schweizer Bevölkerung.
Worum es konkret geht, hat der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) mit dem Wirtschaftsverband Economiesuisse in einer neuen gemeinsamen Studie berechnet.
Die beiden Verbände gehen bei der Entwicklung des Arbeitsangebots erstens vom demografischen Referenzszenario des Bundesamts für Statistik aus. Gemäss diesem wird sich das inländische Arbeitsangebot ohne Zuwanderung bis 2035 verglichen mit heute um rund 297 000 Vollzeitbeschäftigte reduzieren.
Das Ziel ist, den Wohlstand zu erhalten
Im Vergleich zur Angebotsseite ist die zukünftige Entwicklung der Nachfrageseite deutlich schwieriger zu prognostizieren. Economiesuisse hat deshalb eine Annahme über die zukünftige Wirtschaftsleistung getroffen. Als Zielgrösse wurde definiert, dass das BIP pro Kopf als Wohlstandsindikator so weiterwachsen soll wie im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2022.
Um festzustellen, wie viele Arbeitskräfte benötigt werden, um diesen Wohlstand zu erarbeiten, wurde unter der Annahme einer gleichbleibenden Arbeitszeit und einer wie in den vergangenen beiden Jahrzehnten linear weiter steigenden Arbeitsproduktivität berechnet, wie viel jeder Erwerbstätige zum BIP beiträgt und wie viele Erwerbstätige deshalb zum Erhalt des bisherigen Pro-Kopf-Wachstums benötigt werden.
Aus der Analyse geht unzweifelhaft hervor, dass die Schweiz künftig mehr Arbeitskräfte benötigen wird als heute, um die Wohlstandsentwicklung der letzten Jahre fortsetzen zu können. Die zusätzliche Nachfrage steigt von Jahr zu Jahr und beläuft sich im Jahr 2035 auf rund 163 000 Vollzeitbeschäftigte. Die Folge ist eine wachsende Lücke auf dem Arbeitsmarkt. Wird diese nicht fortlaufend unter anderem mit Zuwanderung gefüllt beziehungsweise geschlossen, werden in zehn Jahren in der Schweiz rund 460 000 Vollzeitbeschäftigte fehlen.
Frauen, Ältere und Produktivitätssteigerungen besser nutzen
Wollte man diese Lücke allein über die Zuwanderung schliessen, müssten also jedes Jahr noch mehr Menschen in die Schweiz einwandern als derzeit. Wobei der Unmut darüber auch abnehmen könnte: Immerhin werden mit der schrumpfenden inländischen Bevölkerung die Schulen in ein paar Jahren weniger voll sein, und auf den Autobahnen und in den Zügen werden weniger inländische Pendler unterwegs sein.
Economiesuisse und der Arbeitgeberverband sehen zwei grosse Hebel, um den Bedarf an ausländischen Arbeitskräften zu mindern. Das ist erstens eine bessere Nutzung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und zweitens die Steigerung der Produktivität. Im Bereich der besseren Nutzung inländischer Arbeitskräfte stehen die Frauen beziehungsweise Mütter sowie die Bürgerinnen und Bürger über 65 Jahre im Zentrum. Hier sehen die Wirtschaftsverbände das grösste Potenzial – und derzeit die grössten Fehlanreize.
Die Wirtschaft schätzt optimistisch, dass mit Steuerreformen und anderen Massnahmen inländische Frauen insgesamt rund 48 000 und 65- bis 69-Jährige rund 37 000 zusätzliche Vollzeit-Arbeitsstellen besetzen könnten. Auf der anderen Seite könnte die Arbeitsnachfrage um knapp 63 000 Beschäftigte sinken, wenn die Schweiz statt ihrer bisher schon hohen Produktivitätssteigerung sogar ein Produktivitätswachstum wie dasjenige der USA als des in den vergangenen Jahren besten Performers erzielen könnte.
Lippenbekenntnisse bringen nichts
Die Voraussetzung dafür ist, dass nicht nur steuerliche Fehlanreize beseitigt werden, wie es nun Economiesuisse fordert, sondern es die Arbeitgeber mit ihrem Bekenntnis auch ernst meinen und weder um die Mütter einen Bogen machen noch die Altersguillotine auf die älteren Stellensuchenden herunterfallen lassen.
Auch die sogenannte Zero-Gap-Mentalität, bei der die Unternehmen lieber den perfekten Kandidaten aus der EU nehmen als einem 90-Prozent-Kandidaten aus der Schweiz die fehlenden Fähigkeiten anzutrainieren, steht einer besseren Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials in der Realität entgegen.
Was die Berechnungen damit klar zeigen: Selbst wenn das inländische Potenzial auf einem realistischen Niveau bestmöglich ausgeschöpft wird und die Produktivität der Unternehmen weiter steigt: An einer Zuwanderung – und zwar in grösserem Ausmass – führt aus Sicht der Wirtschaftsverbände kein Weg vorbei.