Erhard Loretan war 1995 der zweite Mensch nach Reinhold Messner, der alle vierzehn Achttausender ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen hat. Seine in Bern ausgestellten Tagebücher offenbaren, dass er ein glücklicher Zweifler war.
Er suchte nach dem Glück. Und empfing es in der Einsamkeit. Er sass in der Wildnis fest. Und begegnete sich selbst. Überfordert vom konstanten Werktag, boten ihm nur die grössten Reize ein wenig Erleichterung. Das Leben des Alpinisten Erhard Loretan war kühn, radikal, manchmal düster – und endete abrupt.
Das Alpine Museum der Schweiz in Bern zeigt zum ersten Mal die Original-Tagebücher und Filmaufnahmen aus dem Nachlass. Die Ausstellung «Am Limit. Auf Expedition mit Erhard Loretan» versucht, sich diesem Menschen anzunähern.
Der 1959 in der Freiburger Stadt Bulle geborene Loretan wuchs bei seiner Mutter auf. Er mühte sich in der Schule ab, tat sich als Kunstschreiner in der Lehre schwer. Und widmete sich der Kletterei. Mit 15 Jahren bestieg er den Ostgrat des Doldenhorns. Der Pubertät noch nicht entwachsen, überschritt er den Peutereygrat am Montblanc, den längsten Grat der Alpen. Er kletterte die Nordwand des Matterhorns und der Westlichen Zinne hoch.
In sein Tagebuch schrieb Loretan:
«Im Alter von 19 Jahren begriff ich die ungeheuer wichtige Rolle, die die Berge in meinem Leben eingenommen hatten. Ich hatte schon alles gemacht, was ein Alpinist in den Alpen machen kann. Dies waren Erfahrungen, dank denen ich den Sinn des Worts ‹Glück› erfuhr.»
Als er sich zum Kurs für angehende Bergführer meldete, löste er den «Schwur der Kindheit» ein:
«Die Alpinisten gehören vielleicht zu jenen wenigen Menschen, die sich ihre Kindheitsträume zu erfüllen versuchen.»
Er hatte nicht das grandiose Ego und Vermarktungstalent von Reinhold Messner
Als er 24 Jahre alt ist, ist das Projekt, einer der besten Bergsteiger der Welt zu werden, bereits abgehakt: Im Juni 1983 stand er innerhalb von zwei Wochen auf drei Achttausendern.
«Ich brauche Bewegung und Abenteuer. Dazu gehört, mich in schwierige Situationen zu begeben und dem Tod nahe zu sein. Bei jedem Achttausender weiss ich, dass er mich das Leben kosten kann.»
1995 ist Loretan nach Reinhold Messner der zweite Mensch, der alle 14 Achttausender ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen hat. Messners bergsteigerisches Niveau hat er nicht nur erreicht, sondern übertroffen, aber Loretan besass nicht das grandiose Ego und Vermarktungstalent des Südtirolers. So blieb Loretan bescheiden, selbst als er den Höhenalpinismus mit seinem Stil revolutionierte.
Sein Biograf Charlie Buffet bezeichnete den Stil, den Loretan mit Jean Troillet entwickelt hat, als «kopernikanische Wende». Ende August 1986 haben sie ihn in nie da gewesener Reinheit und Perfektion vollendet. Sie stiegen in nur 43 Stunden vom Basislager das Hornbein-Couloir hoch auf den Mount Everest und zurück.
Loretan schrieb:
«Seien wir ehrlich, wenn ein Alpinist davon träumt, auf den Everest zu gehen, dann tut er dies aus zwei Gründen: erstens, um einen schönen Berg zu besteigen. Und zweitens, um in der Szene anerkannt zu werden.»
Fortan erfuhr er weit mehr als Anerkennung, es war vielmehr Ehrfurcht. Seine Leistung erschütterte die erprobten Elite-Alpinisten und war verbindlich für die kommenden.
Im Dezember 2001 bricht die Biografie von Loretan. Er schüttelt seinen sieben Monate alten Sohn, das Kind stirbt an den Folgen eines Schütteltraumas. Die zurückgebliebenen Eltern halten diese Tragik zusammen nicht mehr aus und trennen sich. Schliesslich sollte ihn die Frau, die er danach liebte, am 28. April 2011 bei einer Bergtour aufs Grünhorn in den Tod reissen. Es ist sein 52. Geburtstag.
50 Portionen Fondue à 400 Gramm
Der Ausstellungsraum im Alpinen Museum der Schweiz ist klein, die Fülle an Informationen gross. 45 Tagebücher, 30 000 Dias, 70 Stunden Diktafon-Aufzeichnungen und 150 Ausrüstungsgegenstände umfasst das alpinistische Erbe, das seine Familie 2014 dem Museum übergeben hat.
Da steht ein originales Kuppelzelt, der Innenraum ist dekoriert mit alpintechnischem Zubehör, inklusive Diamox, die medikamentöse Notfall-Hilfe in grossen Höhen. Ein Schreiben der Firma Gerber, die für die Expedition 1993 am Kangchendzönga 50 Portionen Fondue à 400 Gramm offeriert, gibt Einblicke in den Menuplan. Grossformatige Bilder, ein Stirnband, Steigeisen, Skis und knallfarbene Overalls: ein Inventar, das unter Alpinisten sakrales Potenzial entwickeln mag.
Ein Schauspieler hat Ausschnitte aus Tagebüchern für die Hörstationen eingelesen. Die Journale erzählen von Liebe, Abenteuer, Angst, Finsternis und banger Zuversicht:
«Wenn meine Stunde noch nicht schlägt, werde ich durchkommen»,
schreibt Loretan so oder ähnlich an mehreren Stellen und fragt sich oft, wenn er «keine Inspiration» für seine Tätigkeit finden könne:
«Was ist die Mission?»
An solchen Tagen ist er «froh, die Angst zu überwinden». Und immer wieder stellt er sich die Frage:
«Bin ich glücklich?»
Amüsant ist ein Filmausschnitt, der zeigt, wie er mit dem polnischen Alpinisten Wojciech Kurtyka darüber zankt, was sie für den Aufstieg zum Cho Oyu in den schmalen Rucksack packen wollen. Loretan wollte möglichst wenig und nur «ein kurzes Seil».
Loretan und Troillet liefen Tag und Nacht
Um die Eindrücke einordnen zu können, fährt der Autor dieses Textes zu einem von Loretans wichtigsten Weggefährten nach La Fouly, ins Val Ferret, Kanton Wallis. Grandes Jorasses und Montblanc sind ganz nah. Dort sitzt Jean Troillet in der «Auberge des Glaciers», um die Persönlichkeit von Loretan und die Magie einer der aussergewöhnlichsten und stilvollsten Seilschaften, die je im Höhenalpinismus aktiv waren, zu ergründen.
Man würde Troillet die 75 Jahre nie geben, auch weil sein Lächeln noch immer schelmisch wirkt. Troillet sagt: «Es gibt einen Zustand hier und einen Zustand dort oben. Den Zustand dort oben kannst du nicht erklären. Es ist eine andere Welt. Es zählt nur eines, das Leben.»
Troillet hat zehn Achttausender bestiegen, acht mit Loretan. Und ist 1997 als erster Mensch mit einem Snowboard auf der Nordseite des Everest gefahren. «Um sich in diesen Zustand zu begeben, muss man besessen von den Bergen sein. Wir mochten Grenzerfahrungen und waren bereit, dafür ausserordentlich zu leiden. Wir waren extreme Charaktere und stark im Kopf. 90 Prozent geschehen im Kopf.»
Troillet sagt über sich und Loretan: «Wir haben uns sehr gut ergänzt. Es gab viele Momente, in denen wir uns blind verstanden. Wir waren gleich stark, aber nie Konkurrenten. Wir stiegen einfach auf die Berge, nicht um ein Buch zu schreiben.» Aber Loretan habe die Warterei im Basislager kaum ausgehalten, ihn habe es auf die Berge gezogen. «Einmal mussten wir 17 Tage im Zelt ausharren, weil es immer schneite. Erhard wollte längst abreisen. Ich war gelassener.»
Troillet spricht auch über die Everest-Besteigung und jenen eleganten, reinen Stil, der selbst den kleinsten Fehler nicht verzeiht. «Reinhold Messner und Peter Habeler haben vorgemacht, dass man ohne künstlichen Sauerstoff auf die höchsten Berge kommt. Zehn Jahre später war das für uns schon normal.»
Neu bei ihnen sei gewesen, dass sie Tag und Nacht gelaufen seien. Ohne Biwak und fast ohne technisches Material. Sie hätten keinen Klettergurt, sondern nur eine sechs Millimeter starke Reepschnur um die Hüfte gehabt, damit sie sich irgendwo festmachen konnten. «Wir assen Schnee und trugen zwei Energieriegel bei uns, von denen wir nur einen gegessen haben. Du hast keinen Hunger, wenn du so etwas Intensives machst. Der Kopf ist so konzentriert, dass alles andere folgt.»
Erinnerungen an eine verflossene Liebe
Im Jahr 1980 war Erhard Loretan als junger Mann auf der Gebirgskette Cordillera Blanca in Peru. Er schrieb in seinem Tagebuch über jene Frau, für die sein Herz geschlagen hatte:
«Es wäre schön, wenn Nicole an meiner Seite wäre. Ich bedaure, dass sie nicht da ist.»
Um ein paar Zeilen später zu erwägen, dass er vielleicht in die Einsamkeit gehen müsse, «um besser zu lieben». Nicole Niquille lernte Loretan Ende der 1970er Jahre beim Klettern in den schroffen Kalkwänden der Gastlosen kennen. Sie wurden ein Paar und verbrachten jede freie Minute in den Greyerzer Bergen. Die Touren wurden länger – und riskanter.
Niquille war 1985 mit Loretan und Troillet zum K 2 unterwegs, dem technisch anspruchsvollsten Achttausender, ein Jahr später war sie auch am Everest. Die beiden Berge haben sie zurückgewiesen, die Gipfel blieben ihr verwehrt – was sie nie bedauert hat.
Nun sagt Nicole Niquille am Telefon: «Die Zeit mit Erhard in den Bergen war wunderbar. Ich habe mich so sicher gefühlt, dass ich überall mitgegangen wäre. Als wir das erste Mal zum Montblanc gefahren sind, hatte ich nie zuvor Steigeisen an den Füssen. Er hat trotzdem eine schwierige Route ausgewählt. Wir stiegen durch die Brenvaflanke und am nächsten Tag über den Frendopfeiler. Mit ihm war alles möglich.»
Auf die Frage, was Loretan über seinen Auftritt im Museum wohl sagen würde, antwortet Niquille: «Es ist gut, dass es diese Ausstellung gibt. Er hat diesen Platz verdient. Aber Erhard wäre wohl nicht einverstanden. Einmal sind wir im Sherpa Culture Museum in Namche Bazar gewesen. Dort sind alle Everest-Expeditionen in Wort und Bild dokumentiert. Er hat gesagt, dass Helden nicht ins Museum gehörten. Er wollte nicht als Held im Museum sein.»
Im September 1986 erhielt die damals 30-jährige Niquille als erste Frau das Schweizer Bergführer-Diplom. Verklärt von den Medien und umschwärmt von den männlichen Kollegen: Die Beziehung zu Loretan hielt das nicht mehr aus. «Von da an bedeutete mein Name etwas in der Bergsport-Welt. Vorher war ich ‹die Freundin von Erhard Loretan› gewesen.» Zwei Monate nach der Diplomübergabe trennte sich das Paar.
Acht Jahre später wurde Niquille beim Pilzesammeln von einem kleinen Stein am Kopf getroffen. Sie erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma – und blieb querschnittgelähmt. Der gelebte Traum als Alpinistin war jäh zu Ende, nicht aber die Energie zum Leben. Sie machte die Wirtefachprüfung, eröffnete das Restaurant «Chez Nicole» am Lac de Tanay in den Walliser Alpen. Gründete die Nicole-Niquille-Stiftung und baute ein Spital im nepalesischen Bergdorf Lukla auf.
Niquille und Troillet waren dem Tod öfters nah. Andere wurden von ihm getroffen. Über Loretans Ableben sagt Troillet: «Sein Tod war ein Schock für mich. Tagelang nur unendliche Traurigkeit. Mais, c’est la vie.»
Niquille war damals in Nepal und erfuhr vom Unglück im Internet. «Für mich war der Tod wie ein Freund. Wenn ich jeweils von einer schwierigen Tour zurückgekommen bin, habe ich zu ihm gesagt: ‹Ich habe dich wieder besiegt.› Aber ich hätte nie gedacht, dass Erhard in den Bergen sterben würde. Er war den Bergen so nah und vertraut gewesen.»
Im Tagebuch von Loretan steht:
«Ich habe mich immer dem Gelände angepasst, ich weiss, wo der Gipfel ist und wo der Ausgangspunkt. Von dort an ist es wie sonst im Leben: immer improvisieren.»
Am Limit. Auf Expedition mit Erhard Loretan. Alpines Museum der Schweiz, Bern. Ausstellung bis 16. März 2025.