Der Justizvollzug muss immer mehr psychisch Kranke aufnehmen. Ein Fall aus dem Kanton Zürich zeigt, wie schwer der Umgang mit dem Phänomen ist.
Herr B. drückt zur Begrüssung die Hand, wie andere eine Orange auspressen. Seine Augen sind blau und kalt, seine Stimme ein warmer Berndeutscher Singsang. «Schizophren, Psychopath», sagt er, wenn man ihn nach seiner Diagnose fragt.
Er habe seine Krankenpflegerin von hinten attackiert, zwei Mal zugestochen, direkt in den Hals, mit dem Militärmesser seines Vaters. Deshalb, sagt Herr B., sei er hier. Er zeigt auf die selbstgemalten Mandala an der Wand, die Bibelverse, die Fotos von Eishockeyspielern.
Das ist bis heute das Zuhause von Herrn B. im Pflegezentrum Bauma – einem der wenigen Orte in der Schweiz, die Menschen wie ihn noch aufnehmen. Vergangenes Jahr, als die NZZ ihn dort besuchte, war er um die 70, in einer stationären Massnahme – auch «kleine Verwahrung» genannt – und zufrieden.
«Ich habe nichts zu verbergen», sagte er zum Abschied. Seine Tat, über die er beiläufig sprach wie über einen ärgerlichen Schnupfen, bereue er.
Fälle wie der von Herrn B. werden im Straf- und Massnahmenvollzug immer häufiger. Jérôme Endrass, der stellvertretende Leiter des Zürcher Amts für Justizvollzug und Wiedereingliederung, sagt: «Es gibt immer mehr psychisch kranke und pflegebedürftige Personen in unseren Einrichtungen. Wer früher von der Psychiatrie aufgefangen wurde, landet heute immer häufiger bei uns.»
Mehr Häftlinge mit psychischen Problemen
Die Hälfte aller Inhaftierten in Zürcher Gefängnissen weist inzwischen psychische Auffälligkeiten auf, gleich nach der Festnahme sind es sogar zwei Drittel. Das zeigt eine unveröffentlichte Studie von Endrass’ Team, die der NZZ vorliegt und auf einer repräsentativen Befragung beruht. Am häufigsten werden Anzeichen für Psychosen und Angststörungen festgestellt.
Laut Endrass begehen die Betroffenen vor allem Körperverletzungen, Drohungen und Vermögensdelikte wie etwa Diebstähle. Bei Psychotikern beispielsweise geschehe dies oftmals als Folge einer Wahnepisode und der teilweise damit verbundenen Halluzinationen.
Der Blick auf die nationale Statistik zeigt zudem eine Zunahme von Straftätern, die wegen psychischer Probleme mit einer stationären Massnahme belegt wurden. In den vergangenen Jahren gab es jeweils rund 130 entsprechende Gerichtsurteile pro Jahr. Vor der Jahrtausendwende waren es noch rund 30 – nicht einmal ein Viertel davon.
Es ist ein Trend, der bei anderen Massnahmen nicht zu erkennen ist. So haben etwa die stationären Suchtbehandlungen und die Verurteilungen zu einer ambulanten Therapie landesweit abgenommen. Ebenso sieht es bei der schwersten Freiheitseinschränkung aus, die nicht urteilsfähige Täter ereilen kann: der Verwahrung.
Mehr psychisch Kranke, die im Justizvollzug behandelt werden: Für Jérôme Endrass hängt diese Entwicklung mit dem Wandel der Schweizer Psychiatrie zusammen. «Früher konnten instabile Patienten viel länger in einer Klinik bleiben. Jetzt werden sie möglichst rasch entlassen.»
Entsprechend komme es auch häufiger vor, dass sie – etwa bei einem psychotischen Schub – Delikte begingen. Das Phänomen sei aus den USA bekannt: Je weniger Psychiatrieplätze für eine bestimmte Patientengruppe vorhanden sind, desto öfter trifft man sie in Gefängnissen an.
Es sei grundsätzlich positiv, dass die moderne Psychiatrie auf möglichst kurze, ambulante Behandlungen setzte, sagt Endrass. «Die Kehrseite dieser Entwicklung ist jedoch, dass viele chronisch Kranke nun im Justizsystem landen.»
Für Verwahrte und stationär Versorgte sind die Plätze in staatlichen Einrichtungen jedoch rar. Der Zürcher Justizvollzug verfügt selbst nur über 24 solche Plätze, in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, dem grössten Gefängnis des Landes.
Statt im Gefängnis landen die psychisch kranken Täter deshalb in forensischen Psychiatrien – oder bei Privaten wie dem Pflegezentrum Bauma, dem Zuhause von Herrn B. Doch genau an dieser Art der Unterbringung wird zunehmend Kritik laut.
Der Mörder im Pflegeheim
Das Heim in Bauma ist schweizweit ziemlich einzigartig. In den Räumlichkeiten eines ehemaligen Spitals gelegen, nimmt es neben regulären Bewohnern auch all jene auf, die in den Psychiatrien und Anstalten des Landes keinen Platz mehr finden: Austherapierte, Langzeitpatienten, Verwahrte.
Im Zimmer neben Herrn B. wohnte beim Besuch der NZZ ein verurteilter Mörder. Wenige Zimmer weiter sind auch Personen untergebracht, die nie straffällig geworden sind: freiwillige Eintritte oder solche, die per fürsorgerische Unterbringung zu ihrem Schutz hier platziert sind.
Genau diesen Punkt kritisiert nun die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter in einem Bericht. Es sei «problematisch», wenn strafrechtlich Verurteilte auf denselben Abteilungen untergebracht würden wie Patienten, die nichts verbrochen hätten.
Auch die Unterbringung von verwahrten Personen in «karg eingerichteten Räumlichkeiten» mit wenig Bewegungsmöglichkeiten bemängelt die Kommission. Sie sei «nicht menschenrechtskonform».
In ihrem Bericht, der bisher öffentlich kaum wahrgenommen wurde, werfen die Anti-Folter-Experten eine grundlegende Frage auf: Darf der Staat psychisch kranke Straftäter dauerhaft in einem privaten Heim unterbringen?
Die Kommission ist skeptisch. Die Praxis führe «zu einem reduzierten Grundrechtsschutz und zu einem intransparenten Rechtsweg». Etwa weil die Aufsicht über solche Zentren auf viele verschiedene Stellen verteilt sei und die Bewohner nicht immer vollständig über ihre Rechte aufgeklärt würden.
Noch weiter geht der Jurist und Vollzugsexperte Benjamin Brägger in der Fachzeitschrift «Plädoyer»: Die Versorgung von pflegebedürftigen Gefangenen und Verwahrten sei eine Staatsaufgabe. Doch statt diese wahrzunehmen, werde sie aus Kostengründen an private Zentren wie jenes in Bauma delegiert.
Damit, sagt Brägger, nähmen sich die Behörden aus der Verantwortung und wichen unangenehmen Fragen aus.
«Soziale Kontrolle reicht»
Beim Zürcher Justizvollzug weist man diese Kritik von sich: Jede Unterbringung werde regelmässig überprüft. Man arbeite nur mit Institutionen zusammen, die – wie Bauma – über eine Anerkennung als private Vollzugseinrichtung verfügten. Ausgestellt wird diese vom Ostschweizer Strafvollzugskonkordat, einem interkantonalen Gremium, dem auch Zürich angehört.
Es gebe zudem keinerlei juristische Vorgabe, gemäss der strafrechtlich verurteilte Personen nicht mit anderen Patienten zusammen betreut werden dürften, so das Amt weiter.
«Es ist sogar fachlich sinnvoll», sagt Jérôme Endrass. «Viele Personen in einer stationären Massnahme oder einer Verwahrung brauchen keine hohen Mauern, um nicht mehr rückfällig zu werden. Die soziale Kontrolle auf einer Pflegeabteilung reicht.»
Er wünsche sich deshalb nicht weniger, sondern mehr spezialisierte Pflegeeinrichtungen für Verwahrte und stationär Untergebrachte, sagt Endrass. «Aus rechtlicher Sicht ist klar: Auch Straftäter haben Anspruch auf eine passende medizinische Betreuung. Und die ist oft nur an einem solchen Ort möglich.»
Manche Patienten sind seit über zwanzig Jahren im Pflegezentrum Bauma. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt über zehn Jahre – in der psychiatrischen Versorgung eine halbe Ewigkeit. Von den 145 Plätzen sind laut dem Heim 53 von Personen im Straf- oder Massnahmenvollzug besetzt.
Bei ihrer Aufnahme lasse man sich von den Vollzugsbehörden nicht unter Druck setzen, betont der Pflegeleiter Anton Distler gegenüber der NZZ. Bräggers Kritik könne er insofern nachvollziehen, als auch er den Staat in der Pflicht sehe, für genügend passende Pflegeeinrichtungen zu sorgen.
«Subjektiv» und «selektiv»
Darüber hinaus weist Distler die Kritik an seiner Institution jedoch zurück. «Wir richten uns nach den pflegerischen und medizinischen Bedürfnissen unserer Bewohner», sagt er. Das Heim erfülle sämtliche Vorgaben zur Zufriedenheit der zuständigen Aufsichtsorgane.
Der Bericht der Anti-Folter-Kommission basiere in Teilen auf «subjektiven Eindrücken und selektiver Wahrnehmung», kritisiert Distler. Dennoch habe man sämtliche Empfehlungen der Experten umgesetzt. Dazu gehören etwa ein niederschwelliger Internetzugang für alle Bewohner, die Erfassung aller verabreichten Medikamente und mehr Bewegungsmöglichkeiten für Verwahrte.
Auch der Kanton stellt sich hinter das Heim. Dessen Bewohner liessen sich oftmals kaum an einem anderen Ort unterbringen, heisst es in einer Stellungnahme des Kantons zuhanden der Anti-Folter-Kommission. Es erfülle damit «ein besonderes Bedürfnis».
Tatsächlich ist die Warteliste laut dem Pflegezentrum ständig voll, die Plätze dort sind heiss begehrt. Erich Seifritz, Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, sagte der NZZ schon vor einem Jahr: «Man könnte heute ein zweites Heim wie jenes in Bauma aufstellen, und es wäre morgen voll.»
Mit der steigenden Anzahl Psychiatriefälle im Justizvollzug wird die Nachfrage voraussichtlich weiter steigen. Beim Angebot hingegen sieht es anders aus. Das unbekannte Pflegezentrum in Bauma leistet laut seinen Unterstützern zwar dringend nötige Pionierarbeit.
Doch Gewinn macht es damit nach eigenen Angaben keinen. Und auch die rechtlichen Hürden bleiben gross. Selbst die Zürcher Behörden – die sich dringend mehr Plätze für psychiatrische «Systemsprenger» wünschen – haben nicht vor, bei sich mehr davon zu schaffen.