Der einflussreiche Ökonom Bruno S. Frey weiss, was ein Land glücklich macht. Er kritisiert die Ich-AG-Gesellschaft, für die Leistung nicht mehr zählt und die keine Verantwortung mehr übernehmen will.
Bruno S. Frey, ist die Schweiz noch ein glückliches Land?
Ja, hauptsächlich im Vergleich mit anderen Ländern. Wir sind reich, haben ein vorzügliches Gesundheitssystem, das duale Bildungssystem ist brillant, und es ist bei uns vergleichsweise sicher, selbst in Grossstädten. Entscheidend ist jedoch das politische System mit der aktiven Mitwirkung.
Das ist alles richtig – und dennoch hat sich etwas verändert, gerade wenn es um politische Entscheide geht.
Das stimmt. Die Menschen sind skeptischer geworden. Das Ja zur 13. AHV ist dafür das beste Beispiel. Wer zweifelt, schaut mehr auf sich. Und dieser Entscheid war ein egoistischer. Früher hiess es bei Vorlagen zuerst: Ist das gut für die Gesellschaft als Ganzes, für das Land? Das wird zunehmend vergessen. Ich finde eine 13. Rente ja auch schön, aber wer bezahlt sie? Es trifft überproportional die Ärmeren. Diese Gruppe ist durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer am meisten betroffen, weil sie verhältnismässig am meisten für Konsum ausgibt.
Woher kommt der Trend, dass man zuerst auf sich schaut?
Weil der hohe Lebensstandard und das glückliche Dasein als selbstverständlich erachtet werden. Das zeigt sich auch an den Trends in den sozialen Netzwerken, die auch in der klassischen Presse immer mehr zum Thema werden. Und auch die Politiker und die Wissenschaft passen sich diesem Trend an.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir reden ständig von Work-Life-Balance, Teilzeit und Home-Office gelten als chic – Unternehmen, die sich dagegen wehren, werden als rückständig abgekanzelt. Und es wird tatsächlich auch mit falschen Beispielen agiert, etwa dass Männer immer weniger Vollzeit arbeiteten. In den Medien werden diese Männer vorgestellt, in der Politik als Beispiele herangezogen und von der Wissenschaft erforscht. Dabei stimmt das gar nicht. 80 Prozent der Männer arbeiten gemäss offizieller Statistik immer noch 90 oder 100 Prozent, also Vollzeit. Die Realität wird nicht mehr abgebildet. Das vermeintlich Gute wird überrepräsentiert.
Was ist das vermeintlich Gute?
Die Selbstverwirklichung, der Individualismus. Das Ich steht immer mehr an erster – und einziger – Stelle. Diese Einstellung wird von Politik, Wissenschaft und Medien sogar noch gefördert. Das macht mir Sorgen.
Ist es nicht gut, wenn sich nicht alles um Leistung und Arbeit dreht, wenn einem das guttut?
Dagegen ist per se überhaupt nichts einzuwenden. Aber dann braucht es auch die Einsicht, dass das eigene Einkommen geringer ausfällt, die Pensionskasse schlechter gefüllt ist. Aber es wird dann nach dem Staat gerufen, der einem mit Unterstützungsleistungen helfen soll. Das geht nicht auf.
Auch nicht, wenn es die Menschen glücklich macht?
Das stimmt eben auch nicht. Teilzeit macht oft nicht glücklicher, wie wir aus der Forschung wissen. Es geht Teilzeitlern auch gesundheitlich nicht besser. Am Anfang mag das kurz toll sein, aber danach hat man einfach viel mehr Zeit, um über das Schlechte nachzudenken. Viel Zeit wird «verplämperet», wie man das in der Schweiz so schön sagt. Ein Beruf dagegen ist oft erfüllend, macht zufrieden, nicht selten glücklich – auch wenn man das selbst gar nicht immer merkt.
Es geht ja auch nicht nur ums Zeitverplempern, sondern etwa auch um Kinderbetreuung . . .
Auch das halte ich nicht nur für begrüssenswert.
Das müssen Sie erklären.
Heute beschäftigen sich Eltern etwa drei Stunden pro Tag mit ihren Kindern. Das ist viel zu viel. Früher war es eine Stunde – und es hat wunderbar gereicht. Kinder müssen nicht immer von den Eltern betreut werden, sondern es ist für ihre Entwicklung viel besser, wenn sie selber denken und handeln. Denken Sie nur an den Schulweg: Das war doch immer die tollste und – genau – die glücklichste Zeit. Heute stehen vor den Schulhäusern die Autos in der Schlange, um den Nachwuchs abzuholen. Das bedaure ich.
Leben wir in einer Nanny-Gesellschaft, weil alles kontrolliert werden muss? Privat, aber auch vom Staat?
Ja, vor allem Letzteres macht mir grosse Sorgen. Der Staat wächst und wächst, aber er schafft hauptsächlich Bürokratie, die uns alle einengt. Ich hoffe, dass Milei und Trump da wirken. Verstehen Sie mich nicht falsch: Gerade bei Trump darf man sich keine Illusionen machen, ihn nicht verharmlosen, aber er hat auch gute Überzeugungen: Dass wir wieder selbständiger werden, ist die wichtigste davon. Das ist der richtige Weg. Es kann nicht sein, dass einzelne Leute in der Verwaltung so viel Einfluss auf unser Leben haben.
Wieso wollen wir, die so viel haben, unselbständig sein?
Weil es uns zu gut geht. Alles ist da. Wie Wohlstand entsteht, was ja ein durchaus wichtiges Thema ist, interessiert nur noch wenige. Also will man sich mit nichts mehr beschäftigen, was über die eigenen Bedürfnisse hinausgeht. Dieses Desinteresse an wirtschaftlichen Themen erstaunt mich eigentlich am meisten.
Weil man sich nicht mehr damit beschäftigen muss?
Genau. Und dann entstehen solche skurrilen Vorlagen wie die Umweltverantwortungsinitiative. Wäre sie angenommen worden, hätte das für die Wirtschaft – vornehm ausgedrückt – drastische Konsequenzen gehabt. Doch über was wurde geredet? Nur über Umweltfragen.
Um diese ging es doch.
Und niemand ist gegen eine gesunde Umwelt. Aber wir müssen realistisch bleiben. Wir haben, verglichen mit dem Ausland, saubere Gewässer, mehr Wald. Klar, es gibt immer Verbesserungspotenzial. Das darf man einfordern. Auch so extrem wie mit dieser Initiative. Aber dann hätte man auch die Konsequenzen aufzählen müssen: Das Pro-Kopf-Einkommen sänke dramatisch, die materielle Wohlfahrt ebenfalls. Dann hätte es für viele keine Sommerferien mehr gegeben, nicht einmal mehr den regelmässigen Besuch im Restaurant, an den wir uns gewöhnt haben. Ich fordere deshalb für die Zukunft: Die Finanzierung muss bei Volksbegehren offengelegt werden.
Bei der 13. AHV-Rente war es dasselbe.
Ja. Das halte ich für einen riesigen Fehler. Vor- und Nachteile müssen doch transparent gemacht werden. Denn es ist doch so: Kein Anliegen hat nur Vorteile.
Macht uns das Wegschauen glücklicher?
Es scheint so. Aber es ist schwer zu erklären, warum sich gerade so vieles verschiebt. Ich meine: Uns droht eine Planwirtschaft. Und niemanden kümmert’s. Vielleicht ist es das Buddenbrook-Phänomen. Ich erforsche gerade, wie man den Zeitgeist richtig erfassen kann. Noch fehlen jedoch die Antworten, warum das passiert.
Was passiert, ist jedoch klar ersichtlich: dass simple wirtschaftliche Zusammenhänge nicht mehr interessieren. Das ist insofern erstaunlich, als ja immer mehr Menschen gut ausgebildet sind, einen tertiären Abschluss haben.
Da müssen Sie aufpassen. Eine gute Bildung macht auch nur kurzfristig glücklich, gerade in Orchideenfächern, wenn danach kein guter Start ins Berufsleben gelingt. Darum sage ich: Ich bin ja auch Akademiker – dennoch warne ich vor der Überakademisierung der Schweiz. Im nationalen Parlament sind es über 60 Prozent, in manchen kantonalen noch mehr. Dabei sind gute Handwerker und Kaufleute genauso wichtig für die Gesellschaft. Oft verdienen sie auch besser als Akademiker. Und studieren, ob an einer Universität oder einer Fachhochschule, kann man bei uns in diesem durchlässigen System immer noch. Die angesprochenen Entwicklungen dieser Ich-AG-Gesellschaft hängen auch mit der Überakademisierung zusammen.
Weil zu viele an die Universitäten strömen – und das Falsche studieren?
Ja, wir haben einen Überhang von weichen Fächern, wie Soziologie oder irgendetwas mit Umwelt. Mint-Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – sind unbeliebter. Leider fördern gerade die Universitäten den Nanny-Staat, der nicht glücklich macht, und indirekt auch das wirtschaftliche Desinteresse – selbst bei wichtigen Fächern.
Wieso?
Nehmen wir das Medizinstudium. Das kostet pro Studenten eine halbe bis eine Million. Und viele – gerade die Frauen, die in der Mehrzahl sind – arbeiten danach maximal Teilzeit. Was sie die Allgemeinheit gekostet haben, zahlen sie so nie mehr zurück. Das ist nicht fair. Viele merken gar nicht, dass sie von anderen profitieren. Das klassische Beispiel: Es kann nicht sein, dass die Kassiererin das Studium des Teilzeitarztes zahlt. Dass das noch belohnt wird mit finanzieller Entlastung – Kinderbetreuung, Krankenkasse: Das ist grotesk. Nicht überraschend, dass diese Menschen dann oft zuvorderst sind, wenn es um mehr staatliche Unterstützung geht – weil sie merken, dass die Vorsorge am Ende des Berufslebens nicht üppig ist. Das sind Faktoren, die ein glückliches Land zunehmend unglücklich machen.
Dagegen ankämpfen könnte man mit einer nachgelagerten Studiengebühr: Wer nach Abschluss viel weniger arbeitet, als er könnte, muss die Ausbildungskosten über die Steuern zurückzahlen. Das klingt fair.
Ja, ich bin dafür.
Würde diese, sagen wir: Gerechtigkeit, auch glücklicher machen?
Davon bin ich überzeugt.
Aber realistisch ist eine solche Gebühr nicht, oder?
Da haben Sie sicher einen Punkt. Aber man muss immer wieder für ein faires Modell kämpfen. Nicht nur, weil es gerecht ist, sondern eben auch, um den sozialen Frieden zu wahren. Ein Grund, warum die 13. Rente angenommen wurde, war ja genau ebendiese Jetzt-bin-ich-dran-Mentalität. Da ging es nicht nur um Zahlungen ins Ausland, die kritisch betrachtet wurden. Sondern auch um ein Ungleichgewicht in der Schweiz. Das ist nachvollziehbar.
Ist es am Ende nicht vor allem die Zuwanderung, die uns sorgt, sogar Angst macht – und unglücklich?
Eine allzu starke Zuwanderung ist ein Problem. Die erleben wir, und deshalb sind die Sorgen berechtigt. Wenn mir Eltern von Schulklassen berichten, die mehrheitlich aus Ausländern ohne genügend Deutschkenntnisse bestehen, dann ist es normal, dass sie sie sich sorgen, dass die eigenen Kinder zu wenig gefördert werden. Aber man muss auch sagen: Einwanderer sind meistens jung und arbeiten – sie tragen also zu unserem Wohlstand bei. Gerade die Deutschen – aber generell Zuwanderer aus dem EU-Raum – bekleiden oft hohe Posten mit hohen Löhnen und zahlen damit viele Steuern.
Dennoch fordern Sie und Ihre Frau, Margit Osterloh, eine Eintrittsgebühr für Zuwanderer.
Ja, weil wir nicht gut selektionieren. Wir nehmen viele auf, unabhängig davon, was sie können oder ob sie überhaupt arbeiten wollen. Das sorgt für falsche Anreize. Wenn jemand in die Schweiz kommt, hat er zu Beginn grosse Vorteile: Er profitiert von einem gesellschaftlichen Kapital, das Schweizer aufgebaut haben. Wer von aussen kommt, soll sich daran beteiligen. Wer arbeitet, beteiligt sich daran mit der Gebühr und den Steuern. Wer nicht arbeiten will, wird durch diese Gebühr wohl davon abgeschreckt, zu uns zu kommen. Das ist fair, transparent – und gerecht.
Wer also zahlt, ist gesellschaftlich von Beginn an involviert – und schneller integriert?
Ein schöner Gedanke. Ich glaube auch: So fühlt man sich schnell als Teil eines Ganzen, das ist für alle Mitmenschen gut. Diese Massnahme wirkt wie ein Kitt für die Gesellschaft. Das macht am Ende alle glücklicher, weil in diesem System die Zuwanderung auf viel mehr Akzeptanz stösst.
Zur Person
Bruno S. Frey – Anwärter auf den Wirtschaftsnobelpreis
sb. Bruno S. Frey, 1941 in Basel geboren, gilt als einer der wichtigsten, einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. Er ist ständiger Gastprofessor für politische Ökonomie an der Universität Basel, Forschungsdirektor bei Crema (Center for Research in Economics, Management and the Arts) und einer der meistzitierten Wirtschaftswissenschafter überhaupt. Frey ist Ehrendoktor an fünf europäischen Universitäten und gilt zudem als Anwärter auf den Wirtschaftsnobelpreis. Er setzt sich für mehr liberales, freiheitliches Denken ein: «Warum wehren sich so wenig Bürgerliche dagegen, dass wir immer unfreier werden?»