Ein Suchtmediziner warnt vor der Substanz und wirft den Behörden Untätigkeit vor.
Der Fentanyl-Konsum in den USA hat Hunderttausende Opfer gefordert. Jetzt bereiten sich auch Schweizer Behörden auf das Schlimmste vor.
Am Montag verkündete der leitende Arzt des Suchtambulatoriums in Basel-Stadt, dass der Kanton neue Massnahmen zur Prävention einer Fentanyl-Krise eingeleitet habe. Dazu gehört etwa eine Meldepflicht für Spitäler, Polizei und Gassenzimmer. Und die Aufrüstung von Testlaboren. Dafür hat die Stadt gar selbst zu Testzwecken Fentanyl gekauft, ganz legal in den USA.
Was Fentanyl für die Schweizer Drogenszene bedeutet und wie Zürich sich auf die Substanz vorbereitet, erklärt Philip Bruggmann. Er ist Co-Chefarzt Innere Medizin im Suchttherapiezentrum Arud.
In den USA sind bereits Hunderttausende Menschen an einer Überdosis Fentanyl gestorben. Seit Jahren wartet man in der Schweiz auf die ersten Fälle. Beobachten Sie schon Fälle von Fentanyl-Süchtigen?
Nein, zum Glück nicht. Aber wir befürchten, dass es bald so weit sein könnte. Uns beunruhigt, dass es bald zu einer Heroinknappheit kommen könnte. In Afghanistan – dem wichtigsten Anbaugebiet der Welt – haben die Taliban den Mohnanbau gestoppt. Somit fehlt der Nachschub für Suchtbetroffene. Heroin könnte deshalb bald durch synthetische Opioide ersetzt werden, die relativ einfach in Laboratorien hergestellt werden können.
Gibt es dafür konkrete Anzeichen?
Es gibt bereits erste Fentanyl-Todesfälle in Europa. Das könnte auch in der Schweiz passieren. Denn sobald synthetisches Opioid dem Strassenheroin beigemischt wird, wird es in kürzester Zeit Tote geben, wenn man nicht sofort reagiert.
Rechnen Sie mit Zuständen wie in den USA?
Ich glaube nicht, dass es in der Schweiz so weit kommen wird. Die Situation ist hier eine völlig andere.
Sie sprechen die liberale Drogenpolitik an mit ihren legalen Abgabestellen und Konsumorten für Süchtige.
Genau. Wir betreiben nicht einfach Repression, sondern auch Schadensminderung. Etwa wenn wir Opioid-Substitute verabreichen – Methadon zum Beispiel oder ärztlich verschriebenes Heroin. Damit erreichen wir viele Betroffene. In den USA ist das anders: Dort ist es vielerorts so, dass man entweder in eine Entzugsklinik geht oder auf der Strasse landet. Dazwischen gibt es nichts.
In anderen europäischen Staaten gibt es bereits Tote. Zum Teil auch in unseren Nachbarländern. Wieso ist Fentanyl bis jetzt nicht in der Schweiz angekommen?
Da spielen Faktoren im Hintergrund mit, die mit dem Schwarzmarkt und den Drogenkartellen zu tun haben. Da haben wir weder Einsicht noch Einfluss. Und das heisst eben auch: Es kann sich plötzlich ändern.
Passt das billige Fentanyl, die «Discounterdroge», einfach nicht auf den Schweizer Luxusdrogenmarkt?
Nein, das glaube ich nicht. Wenn die Fentanyl-Krise eintritt, dann ist das nicht eine Frage eines einzelnen Landes, sondern eine Frage von ganz Westeuropa. Da ist die Schweiz nur ein kleiner Fleck auf der Landkarte.
Wird Fentanyl also über kurz oder lang zwangsläufig zum neuen Heroin?
Fentanyl ist viel stärker als alle anderen Opioide. Selbst für Personen, die an Heroin gewöhnt sind, kann es potenziell tödlich sein. Das macht mir Angst. Zudem besteht die Gefahr, dass die Suchtbetroffenen von Fentanyl abhängig werden. Meistens wird die Substanz zuerst als Streckmittel benutzt – bis die Leute irgendwann nicht mehr ohne können und die Droge den ganzen Markt beherrscht. So wie das in den USA heute der Fall ist.
Basel-Stadt hat eine Meldepflicht für Spitäler und Polizisten eingeführt. Eine solche gibt es in Zürich schon länger. Wie effektiv sind solche Meldeverfahren?
Es ist sehr schwierig, Fentanyl-Fälle schnell zu bemerken, selbst für uns als professionelles Suchtzentrum. Wenn beispielsweise ein Betroffener wiederbelebt werden müsste, dann bestünde sicherlich ein Verdacht, und man müsste entsprechende Proben nehmen.
Man kann die Diagnose also erst stellen, wenn es schon fast zu spät ist.
Genau. Bei Fentanyl kann es wirklich schnell gehen. Es ist so potent – selbst Suchtkranke sind das nicht gewohnt. Wenige Milligramm reichen für einen Atemstillstand. Ohne nötige Hilfe ist man sofort tot. Wir arbeiten unter Hochdruck daran, dass in allen Anlaufstellen genügend Gegenmittel zur Verfügung stehen. Die Stadt klärt derzeit ab, ob es nicht sinnvoll wäre, das Gegenmittel Naloxon den Abhängigen direkt mitzugeben, als Nasenspray. Damit könnten sie sich selber helfen, falls es zu einer Überdosis kommt. Auch das ist ein Learning aus den USA.
Wie funktioniert dieses Gegenmittel?
Es ist ein Gegengift, das sämtliche Opioide neutralisiert und so eine tödliche Überdosis verhindern kann. Aber es gibt ein Problem: Das Mittel ist in der Schweiz nicht erhältlich. Es ist hier nicht zugelassen und muss deshalb aus dem Ausland importiert oder von einem Apotheker hergestellt werden. Zudem ist es derzeit nicht genügend verfügbar. Die Stadt Zürich versucht deshalb gerade, mit den Apotheken genügend Gegenmittel in Form von Nasensprays herzustellen.
Tut die Stadt nach Ihrer Einschätzung genug gegen das Fentanyl-Risiko?
Zürich war die erste Schweizer Stadt, die einen entsprechenden Massnahmenplan erstellt hat. Einer der wichtigsten Punkte darin ist auch, dass Suchtbetroffene über Fentanyl aufgeklärt werden. Wir selbst haben geschulte Mitarbeiter mit Suchterfahrung, die Betroffene künftig sensibilisieren sollen.
Sie haben viel mit Suchtbetroffenen zu tun. Haben diese Angst vor der neuen Droge?
Es ist sicherlich ein Thema, und sie haben Respekt.
Zum Schluss: Wegen der Fentanyl-Krise in den USA kennt die ganze Welt die Gefahr, die von dieser Droge ausgeht. Kann das auch ein Vorteil sein?
Wir haben das erste Mal die Gelegenheit, uns auf einen Drogentrend vorzubereiten. Normalerweise erscheinen solche Trends aus dem Nichts. Auch die Bundesbehörden sind nun gefragt, aktiv zu werden und Zulassung und Vergütungspflicht des Gegenmittels zu beschleunigen. Es geht hier schliesslich darum, Tote zu verhindern.