Als Basler Startup hat Medgate in der Schweiz die Telemedizin aufgebaut. Heute gehört die Firma zum deutschen Händler Otto und muss sich gegen Konkurrenz wie Medi24 aus der Allianz-Gruppe behaupten. Darum dringt sie mit ihren Diensten in neue Kanäle vor.
Wer auf die Notfallnummer eines Kinderspitals oder auf eine kantonale Notdienstlinie anruft, landet je nach Wohnort direkt bei Medgate. Es ist das Personal des Basler Telemedizin-Unternehmens, das die Hilfesuchenden berät und behandelt – und ihnen in vielen Fällen den Gang in die Notfallstation erspart. Diese Lösung entlastet die Spitäler von Bagatellfällen. Zudem fallen die Personalkosten für das Notfalltelefon weg.
Gegenwärtig betreut Medgate so fast alle Kinderspitäler der Deutschschweiz sowie Notdienstlinien in neun Kantonen. Derzeit erwirtschafte die Firma mit diesen Dienstleistungen rund 15 Prozent des Umsatzes, sagt Claudine Blaser, Chefin von Medgate Schweiz. Sie möchte darum mit diesem Bereich weiter wachsen, insbesondere in der Westschweiz und dem Tessin.
So sinnvoll eine solche Entlastung der Spitäler auch sein mag: Natürlich erbringt Medgate diesen Service nicht aus Barmherzigkeit. Das Unternehmen ist vielmehr gezwungen, sich breiter aufzustellen.
Sparpotenzial bei den Prämien
Nach wie vor ist das Geschäft mit den Krankenkassen das weitaus wichtigere Standbein – also die telemedizinische Beratung von deren Kunden. Heute nutzen rund 16 Prozent aller Versicherten ein reines Telemedizin-Versicherungsmodell, dazu kommen Mischformen. In den ersten Jahren dürfen die Prämien bei den Telemedizin-Modellen maximal 14 Prozent tiefer sein als in der Standardversicherung, später allenfalls auch mehr, sofern die Kasse Einsparungen nachweisen kann.
Doch das Umfeld für den Telemedizin-Dienstleister ist mit dem Wachstum der Konkurrenz härter geworden. Seine starke Marktstellung musste Medgate zunehmend gegen andere Anbieter behaupten, was nicht immer gelang.
So verlor die Firma beispielsweise die beiden grossen Krankenkassen Helsana (per 2017) und CSS (per 2022) als Kunden. Beide arbeiten heute mit Medi24 zusammen, einem Unternehmen der deutschen Allianz-Gruppe. Auch die Kassen Visana und KPT beispielsweise sind dort angehängt. Dafür gewann Medgate Groupe Mutuel und Concordia.
Bei der CSS, die einst sowohl mit Medgate als auch mit Medi24 zusammengearbeitet hatte, dürfte man sich mit der Konzentration auf eine einzige Telemedizin-Firma eine Vereinfachung der Abläufe und weniger Verwirrung bei den Patienten erhofft haben.
Preiswettbewerb unter Telemedizin-Anbietern
Doch der Wettbewerb um die Kassen läuft auch über die Kosten. So haben bei den Wechseln die damit verbundenen Einsparungen eine Rolle gespielt. Denn während bei Medi24 ein grosser Teil der Anfragen von medizinischen Praxisassistentinnen und Pflegepersonal bearbeitet wird, kommen bei Medgate hauptsächlich Ärzte zum Einsatz, die allerdings auch mehr verdienen.
Daran soll sich laut Blaser nichts ändern. «Andere Anbieter haben eine andere Art, Telemedizin zu betreiben», sagt sie, «wir halten an der ärztlichen Telemedizin fest, weil wir damit viele medizinische Anliegen der Patienten vollständig lösen können.»
Zwar sei der Ärztemangel bei der Rekrutierung auch für Medgate spürbar, doch die Tatsache, dass die Mediziner von zu Hause aus und mit einem Teilzeitpensum arbeiten könnten, mache die Telemedizin attraktiv. Zudem gibt es für Medgate-Ärzte auch die Möglichkeit, für ein paar Monate nach Kanada umzusiedeln, um von Vancouver aus die Nachtdienste in der Schweiz abzudecken.
Die fehlenden Ärzte wiederum sind ein Grund, warum es vielerorts schwierig ist, die Notfalltelefone der Ärztegesellschaften zu betreiben. Da kann dann Medgate ebenfalls in die Lücke springen, zum Beispiel im Aargau, in Solothurn, Freiburg oder im Jura.
Von Aevis Victoria zur Otto Group
Die ehemalige Helsana-Kaderfrau Blaser führt das Schweizer Geschäft von Medgate seit Juli 2022. Zuvor war es zu einer grösseren Rochade im Medgate-Aktionariat gekommen, verbunden mit einem Kontrollwechsel.
Der börsenkotierte Schweizer Spital- und Hotelkonzern Aevis Victoria verkaufte im März 2022 seine 40-prozentige Beteiligung an die privat gehaltene deutsche Otto Group. Diese brachte zusätzliches Kapital ein und sicherte sich im Gegenzug eine Mehrheit von 65,84 Prozent an Medgate. Zum gleichen Zeitpunkt übernahm Medgate die deutsche Online-Ärzte-Suchplattform Betterdoc.
Der Anteil der zwei im Aktionariat verbliebenen Medgate-Gründer Andy Fischer und Lorenz Fitzi und weiterer Aktionäre reduzierte sich im Rahmen der Transaktion auf 34,16 Prozent. Laut Geschäftsbericht der Otto Group erwirtschaftete die Medgate Group weltweit im Geschäftsjahr 2022/23 einen Umsatz von gut 42 Millionen Euro. Sie beschäftigt 680 Mitarbeitende.
Als Tochter der Otto Group, die auf den gleichnamigen Versandhandel zurückgeht, will Medgate auch in Deutschland wachsen. Gesetzliche Vorgaben für die Telemedizin erschweren dies aber momentan noch.
Ausbreitung in Galenica-Apotheken
In der Schweiz hat Medgate neben den Notfalltelefonzentralen auch die Zusammenarbeit mit Apotheken begonnen. Das funktioniert dann so: Das Apothekenpersonal kann bei Medgate innerhalb von zehn Minuten einen Rückruf für den Patienten beantragen. So kann dieser nach einer telefonischen ärztlichen Beratung ein Rezept erhalten und dieses dann gleich in der Apotheke einlösen – ohne Besuch in einer Arztpraxis.
Typische Anwendungen sind die Behandlung von Hautausschlägen oder das Ausstellen von Arbeitsunfähigkeitszeugnissen. Einen Schub erhofft sich Medgate durch eine Kooperation mit 125 Toppharm- und anderen Apotheken und künftig auch mit rund 300 Apotheken von Galenica (Amavita, Sun Store, Coop-Vitality).
In einer Zeit, in der weniger Leute zum Hausarzt gehen, weil es ihnen zu umständlich ist oder weil sie aufgrund überfüllter oder schlicht nicht mehr existierender Praxen keinen finden, sieht Medgate hier eine Marktlücke.
50 Franken pro Konsultation
Wie bei den Notfalltelefonen gilt auch in der Apotheke, dass Medgate erst dann etwas verdient, wenn eine ärztliche Beratung stattgefunden hat. Laut dem Unternehmen kostet eine solche Konsultation im Schnitt etwa 50 Franken.
Eine Grundgebühr für die Bereitstellung der Dienstleistungen müssen weder die Spitäler noch die Apotheken bezahlen. Jährlich erhielten ungefähr 500 000 Patienten bei Medgate eine telemedizinische Konsultation, sagt die Schweiz-Chefin Blaser. Bei vielen Patienten mit telemedizinischen Modellen sind die Beratungen inbegriffen, Patienten mit Standardmodellen müssen die Gespräche über ihre Krankenkasse abrechnen und je nach Franchise selber bezahlen.
Gerne würde Blaser nach den Notfalltelefonen und den Apotheken «den Patientenpfad noch mehr ausweiten», wie sie es nennt. Als mögliches Einsatzgebiet für die über 130 Ärztinnen und Ärzte am Medgate-Telefon nennt sie Altersheime.
Doch zunächst muss das Unternehmen sich an seine neue Rolle im Gesundheitswesen gewöhnen. Als vor ein paar Monaten ein Hackerangriff Teile der Medgate-IT lahmlegte, war plötzlich auf vielen Notfallnummern für ein paar Stunden niemand erreichbar. Systemrelevanz hat auch ihre Tücken.