Der ehemalige Schweizer Topspieler erklärt, wie Novak Djokovic seine Taktik umgestellt hat, um seinem Alterungsprozess etwas entgegenzusetzen. Und was Beobachter an Roger Federer am meisten verblüfft hat.
Heinz Günthardt, es sieht so aus, als gehe die Dominanz von Novak Djokovic ungebremst weiter. Er strebt in Melbourne seinem elften Titel am Australian Open entgegen. Erst nun, im Viertelfinal gegen Taylor Fritz, wurde er erstmals ernsthaft gefordert. Wie lange kann das noch so weitergehen?
Das ist allein eine Frage seines Körpers. Solange Djokovic physisch gesund bleibt, wird er immer schwierig zu schlagen sein. Tennismässig ist er auf dem höchsten Niveau. Dazu serviert er heute noch besser als vor ein paar Jahren. Dadurch bringt er seine Aufschlagsspiele einfacher durch und erhält er den einen oder anderen Gratispunkt.
Sehen Sie noch eine Weiterentwicklung bei ihm?
Im Zusammenhang mit Djokovic ist das Wort Weiterentwicklung etwas sonderbar. Ich würde eher von einer Anpassung sprechen. Den Service habe ich bereits angesprochen. Als er vor einigen Jahren versuchte, ihn umzustellen, hat das anfänglich gar nicht funktioniert. Doch mittlerweile serviert er so gut, dass er öfters in die Offensive und ans Netz geht. Das tut mir als ehemaligem Serve-and-Volley-Spieler natürlich in der Seele wohl. Man hat mir vor einigen Jahren einmal gesagt, dass man auf diese Art keine Turniere mehr gewinnen könne. Novak spielte im Final des letzten US Open gegen Daniil Medwedew bei wichtigen Punkten Serve-and-Volley und hat so gepunktet. Das hat sicher auch damit zu tun, dass er sich nicht mehr in allzu lange Ballwechsel verwickeln lassen und diese abkürzen will. Wäre er ein Auto, würde man sagen, es habe nun etwas mehr Antrieb. Talent hatte Djokovic schon immer ohne Ende.
Wie lange kann man auf diesem Niveau bleiben, auf dem er zurzeit spielt?
Ich bin wahrscheinlich der Falsche, um diese Frage zu beantworten. Ich musste meine Karriere wegen eines Hüftschadens mit 26 Jahren beenden. Aber der Australier Ken Rosewall stand mit 40 in Wimbledon noch im Final. Tennis ist ein ausgesprochen herausfordernder Sport, und die Belastungen werden immer höher. Früher oder später rebelliert der Körper, und irgendwann geht etwas kaputt. Dann wird es schwierig, den Anschluss wieder zu schaffen.
Steht Rafael Nadal heute an diesem Punkt? Das Comeback des Spaniers endete Anfang Januar in Brisbane nach nur zwei Spielen.
Nadal ist ein Ausnahmefall. Er spielt schon lange am Limit. Ich kann mich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine ganze Saison ohne Verletzung bis zum Ende durchgespielt hat (es war 2019, die Red.). Er ist oft auch angetreten oder hat einen Match zu Ende gespielt, wenn er es besser nicht getan hätte. Einfach, weil er sich einem Sponsor gegenüber verpflichtet fühlte oder einem Gegner den Sieg nicht trüben wollte. Das ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch eine Belastung. Wenn man im Training nicht an die Grenze gehen kann, vertraut man seinem Körper auf dem Platz nicht mehr zu hundert Prozent. Man versucht dann, sich zu schonen, weicht aus, was wiederum zu muskulären Dysbalancen und neuen Problemen führen kann. Dass Nadal immer noch um sein Comeback kämpft, zeigt: Er muss das Tennis wirklich sehr lieben.
Nadal möchte in der europäischen Sandplatz-Saison auf die Tour zurückkehren. Trauen Sie ihm zu, dass er in Paris noch einmal gewinnt und seinen 15. Titel in Roland-Garros feiert?
Vom Tennis her sicher. Wann immer Nadal zurückkehrte, spielte er sofort wieder auf Topniveau. Seine Leistung vor zwei Jahren am Australian Open, als er im Final gegen Medwedew mit 0:2 Sätzen zurücklag und doch noch gewann, ist für mich eine der grössten Leistungen, die ich im Tennis je gesehen habe. Deshalb würde ich Rafa nie abschreiben. Ihn auf Sand spielen zu sehen, ist eine Art Poesie. Wie Federer auf dem Rasen von Wimbledon oder Djokovic auf den Hartbelägen von Melbourne.
Da ist er wieder, Novak Djokovic, der alle anderen mit seinen Siegen in den Schatten gestellt hat. Bereits gibt es Menschen, die sagen, der Italiener Jannik Sinner werde für ihn künftig zur grösseren Herausforderung als der Spanier Carlos Alcaraz. Wie sehen Sie das?
Wenn ich mich richtig erinnere, hat Alcaraz Djokovic im vergangenen Sommer in einem Fünfsatzmatch in Wimbledon bezwungen. Das ist Sinner noch nicht gelungen. Die beiden sind für den Serben verschiedene Herausforderungen. Sinner ist offensiv stärker und kann Djokovic mehr zurückdrängen. Dafür spielt Alcaraz aus der Defensive besser. Das macht es selbst für Djokovic schwierig, gegen ihn Winner zu schlagen.
Die Generation um Alexander Zverev, die Djokovic eigentlich herausfordern sollte, scheint den Anschluss zu verlieren.
Zverev hat das Potenzial, um jeden auf der Tour zu schlagen. An einem guten Tag kann er jeden Gegner mit der Wucht seiner Schläge wegdrücken. Bisher fehlte ihm allerdings die Konstanz, um an einem Grand-Slam-Turnier über zwei Wochen sieben Best-of-five-Matches ohne Leistungsabfall zu bestreiten. Vor zwei Jahren, als er im Halbfinal von Paris auf Nadal traf und sich in diesem Match schwer am Knöchel verletzte, spielte er wahrscheinlich sein bestes Tennis. Wer weiss, hätte er den Misstritt nicht gemacht, wäre das möglicherweise sein Moment gewesen.
Bei den Männern gibt es eine klare Hierarchie, bei den Frauen herrscht auch in Australien Willkür. Die Siegerinnen wechseln ständig. In Melbourne erreichten nur drei aus den Top Ten die zweite Turnierwoche.
Es gibt drei Spielerinnen, die ein wenig besser sind als der Rest. Die Polin Iga Swiatek ist auf Sand sehr konstant. Dazu sind für mich die Weissrussin Aryna Sabalenka und die Amerikanerin Coco Gauff etwas höher einzustufen als die anderen. Es ist sehr interessant, zu beobachten, ob Gauff ihr Niveau nach dem Sieg am US Open noch einmal auf ein neues Level heben kann. Athletisch, aber auch von ihren Bewegungen her ist sie trotz ihren erst 19 Jahren für mich die Beste. Und auch ihr Verständnis vom Tennis ist überdurchschnittlich. Gauff hat das gewisse Etwas, das die Besten vom Rest unterscheidet.
Wie erwarten Sie Belinda Bencic zurück, die bald ihr erstes Kind erwartet?
Ich bin sicher, dass sie sehr schnell wieder sehr gut Tennis spielen wird. Ihr Timing ist eines der besten auf der Frauen-Tour. Sie schlägt den Ball intuitiv richtig. Von ihr sieht man kaum je einen Ball vom Rahmen verspringen. Wenn man das hat, ist es ähnlich wie beim Fahrradfahren: Man verlernt das nicht. Bei Belinda ist die Frage mehr: Wie sehr kann sie sich weiterhin voll auf das Tennis konzentrieren? Mit ihrer Rolle als Mutter wird sich in ihrem Leben einiges verändern. Doch es gibt auch Beispiele wie jenes der Belgierin Kim Clijsters, welche diese Rolle beflügelt hat. Clijsters gewann drei ihrer vier Major-Titel erst, als sie Mutter war.
Die Hoffnungen der Schweizer Männer ruhen auf Dominic Stricker. Zu Recht?
Dominic ist fraglos ein begnadeter Tennisspieler. Ähnlich wie Bencic steht er intuitiv richtig. Sein Timing und das Spielverständnis sind überdurchschnittlich. Mich beunruhigt aber, dass er zuletzt immer wieder verletzt war. Das gibt auch seinem Umfeld zu denken.
Ist er nicht austrainiert?
Das hat man ihm schon immer vorgeworfen. Zu Unrecht, wie ich finde. Es hat mit seiner Art zu spielen zu tun. Stricker hat eine Fähigkeit, die ihn auszeichnet: Er steht von Natur aus richtig. Das war schon so, als ich ihn mit 13, 14 Jahren zum ersten Mal sah. Wohin der Ball auch kam, Stricker war schon da. Weshalb sollte er sich mehr bewegen, wenn er am richtigen Ort steht?
Und wie weit ist Leandro Riedi, der lange als Strickers Tennis-Zwilling galt?
Stricker brillierte mit seinem Stellungsspiel, Riedi ist von der Schnellkraft her eine Rakete. Das führt dazu, dass er die Punkte manchmal etwas gar schnell sucht und zu wenig geduldig ist. Auch er ist zu häufig verletzt. Als er Anfang Januar aus seiner jüngsten Verletzungspause zurückkehrte, gewann er auf Anhieb ein Challenger-Turnier in Portugal. Riedi hat grosses Potenzial. Doch wenn er unter Stress kommt, versucht er es mit Kraft, damit überfordert er zuweilen seinen Körper. Daran muss er arbeiten. Die Kombination aus Intensität, Ehrgeiz und Gelassenheit ist übrigens das, was Beobachter an Roger Federer am meisten verblüfft hat.
Wir können dieses Gespräch nicht beenden, ohne Worte zu Stan Wawrinka verloren zu haben. Wie Nadal kämpft der bald 39-jährige Romand mit wiederkehrenden Verletzungen, und auch er will nicht aufgeben. Wie lange kann er das noch durchhalten?
Wie ich schon gesagt habe: Tennis ist ein brutaler Sport. Ein Fünfsatzmatch auf Hartbelag bei 35 Grad Hitze, wie ihn Stan in Melbourne in der ersten Runde gegen Adrian Mannarino bestritten hat, bringt jeden Spieler an seine Leistungsgrenze. Doch wenn man die Passion hat wie Wawrinka und es immer noch in die Hauptfelder der grossen Turniere schafft, weshalb sollte man dann nicht weiterspielen? Ich habe den Eindruck, Stan geniesst es heute fast mehr, auf dem Platz zu stehen, als vor zehn Jahren, als er in Melbourne seinen ersten grossen Titel gewann. Es geht für ihn nicht mehr um Turniersiege, sondern darum, auf den grossen Plätzen vor vielen Zuschauern zu spielen. Schlägt er seine wunderbare einhändige Rückhand, reisst dies das Publikum von den Sitzen. Die Zuschauer sehen und honorieren seine Leidenschaft, und er geniesst es, deren Anerkennung zu spüren.