Nach der Messerattacke auf einen orthodoxen Juden mehren sich unbequeme Fragen: Hat der Nachrichtendienst versagt – oder gleich die gesamte Ausländerpolitik? Ein Klärungsversuch.
Die Schweiz galt über Jahrzehnte als einer der wenigen Orte in Europa, in denen Jüdinnen und Juden ein relativ unbeschwertes Leben führen können. Rund 18 000 von ihnen wohnen im Land, die meisten in der Stadt Zürich. Sicherheit und Religionsfreiheit stehen jeder Bewohnerin und jedem Bewohner unabdingbar zu, gerade auch Minderheiten. Das liegt im Interesse aller. Jedenfalls sollte es so sein.
Der perfide, islamistisch motivierte Messerangriff eines Fünfzehnjährigen auf einen orthodoxen Juden in Zürich vom vergangenen Wochenende brachte diese Gewissheit ins Wanken. Vertreter der jüdischen Gemeinschaft fühlen sich nicht mehr sicher. Sie sprechen von einer Zäsur. Es gibt ein Leben vor und eines nach der Tat.
1941 schrieb Hannah Arendt: «Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher.» Sie selber war damals auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus. Ihr Ausspruch hat über achtzig Jahre später wieder Gültigkeit – auch in der Schweiz. Es ist ein Schande.
Was soll der Staat gegen die Gefahr von antisemitischen, namentlich islamistischen Tätern unternehmen, vor der auch der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) warnt – nach dem Terrorakt vom Wochenende umso mehr? Wie soll er die jüdische Gemeinschaft schützen?
Dass die Polizei in Zürich ihre Patrouillen verstärkt und die Bewachung von Synagogen und jüdischen Schulen intensiviert hat, ist ein unabdingbarer Schritt. Dass die Öffentlichkeit die Kosten für private Sicherheitsauslagen der jüdischen Organisationen teilweise oder ganz übernimmt, sollte ebenfalls eine Selbstverständlichkeit sein. Sicherheit ist oberste Staatsaufgabe. Im Kanton Zürich geschieht dies seit ein paar Jahren. Gewisse Kantone zögern aber mit der Umsetzung; das ist unverständlich angesichts der realen Bedrohungslage.
Querelen im Nachrichtendienst
Was gibt es sonst zu tun? Nach dem Messerangriff in Zürich richteten sich die Augen rasch auf den Nachrichtendienst des Bundes. Hätte er die Radikalisierung des muslimischen Täters im Internet und allenfalls auch in der realen Welt erkennen müssen? Auf einem Social-Media-Profil mit tausend Abonnenten soll der Jugendliche seine abscheuliche Tat im Voraus angedeutet haben, jedoch verklausuliert und mit Codewörtern versehen. Er nahm zudem ein Bekennervideo auf, das er nach vorläufigen Erkenntnissen einige Stunden vor der Attacke veröffentlichte. Polizeilich war der Fünfzehnjährige zuvor nicht aufgefallen.
Der NDB durchlebt zurzeit heftige interne Querelen; das Arbeitsklima ist schlecht, die Fluktuation unter den Mitarbeitern hoch. Die Rede ist von einer Vertrauenskrise, die auch die operative Arbeit schwäche. Der Vorwurf: Der NDB sei zurzeit mehr mit sich selbst als mit der Sicherheit des Landes und seiner Bewohner beschäftigt.
Diese Probleme muss der Nachrichtendienst in den Griff bekommen. Dass ihm der Täter von Zürich deswegen durch die Lappen gegangen sei, wirkt dennoch weit hergeholt. In den sozialen Netzwerken wimmelt es von jungen Leuten, die wirre, grenzwertige und potenziell gefährliche Inhalte veröffentlichen. Wäre der jugendliche Täter einem NDB mit erstklassigem Arbeitsklima und deutlich mehr Personal als den heutigen 400 Vollzeitangestellten ins Netz gegangen? Möglich, aber ungewiss.
Der NDB ist in der Terrorabwehr heute stark auf Hinweise ausländischer Dienste angewiesen; auch dort scheint man den jugendlichen Attentäter nicht auf dem Schirm gehabt zu haben. Selbstverständlich gilt es diese Fragen nun intensiv aufzuarbeiten. Genauso die Frage, ob der Täter Komplizen oder Einflüsterer hatte. Sie müssen mit aller Kraft verfolgt und nach Möglichkeit bestraft werden.
Härtere Strafen für drastische Fälle
Was sind die politischen Lehren aus dem Zürcher Fall? Wie immer nach einem solchen einschneidenden Ereignis herrscht kein Mangel an Ideen und Vorstössen. Eine Diskussion gibt es etwa zur Verschärfung des Jugendstrafrechts. Der Zürcher Ständerat und Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch schlägt härtere Strafen bei besonders drastischen Fällen vor. Heute kann ein Täter unter sechzehn Jahren wie jener von Zürich nur mit einem Jahr Freiheitsentzug belegt werden.
Angesichts dessen, dass die Zahl der schweren Straftaten bei Jugendlichen steigt und die Täter gleichzeitig jünger werden, darf eine Anpassung in diesem Bereich kein Tabu sein. Am Grundsatz, dass das Jugendstrafrecht auf Resozialisierung und Reintegration setzt, sollte aber nicht gerüttelt werden.
Auch der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr setzt sich für eine härtere Handhabe ein. Als erster Politiker in der Schweiz hat er den Angriff unmissverständlich als das bezeichnet, was er war: ein heimtückischer, antisemitischer Terroranschlag. Neben anderen Massnahmen forderte er, dass dem Messerstecher die Schweizer Staatsbürgerschaft entzogen werde. Da es sich beim Täter um einen schweizerisch-tunesischen Doppelbürger handelt, wäre das nach einer rechtskräftigen Verurteilung bereits nach der heutigen Gesetzeslage möglich.
Der Attentäter hat in seinem Bekennervideo dem Islamischen Staat die Treue geschworen. Mit dem Schweizer Staat hat er ganz offensichtlich gebrochen; dessen Werte trat er mit Füssen. Über eine Ausbürgerung kann man deshalb mit gutem Recht diskutieren – auch wenn dies letztlich nicht die alles entscheidende Frage sein dürfte.
Die SVP sieht derweil in der Schweizer Ausländerpolitik generell das Problem. Wie so oft trifft sie wunde Punkte, übermarcht aber mit gewissen Formulierungen und Pauschalisierungen. Es stimmt, dass eine Einbürgerung am Ende und nicht zu Beginn einer erfolgreichen Integration stehen muss. Diesen Grundsatz verfolgen nicht alle Behörden in der Schweiz gleich pflichtbewusst.
Im Falle des Täters von Zürich ist die Lage komplizierter: Er erhielt das Bürgerrecht als Dreijähriger; seine Eltern waren nach heutigem Erkenntnisstand gut integriert. Nicht umsonst wandte sich der Fünfzehnjährige in seinem Bekennervideo explizit gegen seine Verwandtschaft, die sich in seinen Augen zu wenig muslimisch verhält.
Die wahren Helden sind andere
Ernst nehmen und nicht als billigen Populismus wegwischen sollte man die Warnungen vor Zuständen, wie sie in Frankreich oder Deutschland in gewissen Städten vorherrschen. Es sind Orte, wo Judenhass vor allem in muslimischen Kreisen alltäglich ist, wo Jugendliche ganz selbstverständlich verbal und tätlich gegen Juden vorgehen. So schlimm ist die Lage in der Schweiz nicht. Zum Glück nicht. Aber die abschreckenden Beispiele zeigen, dass es schnell gehen kann, wenn man nicht aufpasst.
Dabei reicht es nicht, auf den Staat und die Behörden zu zeigen und Verantwortung abzuschieben. Die Bekämpfung von Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Jeder und jede sollte im Kleinen tun, was möglich ist.
Wenn im Klassen-Chat derbe Judenwitze und IS-Propaganda geteilt werden, dann sind Eltern, Mitschüler und Lehrer gefordert, dazwischenzugehen. Wenn jüdische Schüler wegen ihres Glaubens gemobbt werden, ebenso. Wenn es Anzeichen gibt, dass sich Jugendliche radikalisieren, ruft das nach einer Reaktion. Es gibt Fachstellen, denen man solche Vorfälle melden kann. Wenn an Demonstrationen oder Hauswänden Slogans wie «From the River to the Sea» transportiert werden, braucht es Leute, die das klar als antisemitisch benennen. Wenn man als Nichtjude Diffamierungen und Pöbeleien miterlebt, muss man sich solidarisieren.
«Es beginnt mit spucken und hört mit dem Messer auf», sagt Zsolt Balkanyi, der Direktor der Jüdischen Schule Noam, in der NZZ. Gewalt von solchem Ausmass wie letztes Wochenende sei in der Schweiz zwar noch selten – aber die Haltung dahinter sei es nicht. Es sind Worte, die zu denken geben sollten. Wenn die grässliche Tat von Zürich immerhin etwas Gutes haben soll, dann, dass man jetzt genauer hinhört.
Auch die Medien tragen eine Verantwortung. Das Bekennervideo des Täters von Zürich und sogar der Live-Mitschnitt der Attacke wurden von gewissen Online-Portalen verbreitet, zum Teil unverpixelt. Der noch vor Ort verhaftete Islamist wird sich gefreut haben, solch unvorsichtige Komplizen zu haben, die seine hasserfüllte Botschaft in Bild und Ton multiplizieren. Sie helfen mit, den feigen Messerstecher in seinen Kreisen zum Helden zu verklären.
Die wahren Helden sind derweil andere: die vier jungen Männer, die den Täter überwältigt und festgehalten haben. Nur dank ihnen hat der fünfzigjährige angegriffene Familienvater überlebt. Sie haben nicht nur ihn gerettet. Der Täter wollte so viele Juden töten wie möglich.
Polizisten fragten die jungen Männer im Nachgang, weshalb sie sich mit der Rettung selber in Gefahr gebracht hätten. Sie sagten, für sie sei das gar keine Frage gewesen. In einer solchen Situation müsse man einfach helfen. Ein Mann sei in Not gewesen.