Jahrelang liess er sich vor laufender Kamera beschimpfen, demütigen, schlagen: JP war ein Star auf der Reality-Plattform Kick. Tabubrüche seien für viele Menschen erregend, sagt der Psychologe Daniel Süss.
Angefangen hatte es harmlos. Mit Videos, in denen JP gehänselt wurde. Angerempelt, beschimpft, ein bisschen geschubst. So erzählten es die Kollegen, die mit JP zusammen auf der Internetplattform Kick einen Videokanal betrieben. 2022 begannen sie damit. Mit der Zeit wurden die Spiele gröber, die Beleidigungen deftiger, die Schläge härter. Am Montag starb JP vor laufender Kamera, nach einer Live-Übertragung, die mehr als zwölf Tage gedauert hatte. Tausende Internet-User schauten dabei zu.
Einige Zuschauer machten die Betreiber des Kanals darauf aufmerksam, JP bewege sich nicht mehr. Ein junger Mann, der sich bei JP im Zimmer in der Nähe von Nizza befand, in dem der Stream gefilmt wurde, warf lachend eine Plastikflasche nach dem leblosen Körper. Dann brach der Stream ab. JP war tot. Sein Tod sei nicht auf Fremdeinwirkung zurückzuführen, gab die Polizei am Donnerstag bekannt.
Der Tod von JP alias Jean Pormanove erinnert an die Handlung einer dystopischen Serie à la «Black Mirror». Grausame Inszenierungen, bei denen sich Tausende Menschen glänzend unterhielten. Mit der Zeit wurden die Spiele zu blutigem Ernst. Und niemand will es gemerkt haben. Weder die Veranstalter noch die Zuschauer. Der 46-jährige JP, ein ehemaliger Obdachloser und Soldat, war in den Spielen von Anfang an das Opfer. Er wehrte sich gegen die Misshandlungen, schrie. Das sei Teil des Spiels gewesen, «ihre Art von Humor», sagten JPs Kumpane.
Gewalt macht sich bezahlt
Das Spiel schaukelte sich auf. Sobald Gewalt ins Spiel kam, stiegen die Zuschauerzahlen. Je mehr Gewalt, desto höher die Einnahmen. Laut dem französischen Medienportal «Mediapart» verdienten sie in manchen Monaten mehrere zehntausend Euro. JP und seine Kollegen merkten: Wenn JP sich ärgerte, brachte das Geld. Wenn er schrie, brachte das noch mehr Geld. Es gab User, die darum baten, JP beleidigen zu dürfen. Abend für Abend waren rund fünfzigtausend Menschen zugeschaltet.
JP betonte mehrmals, er tue das freiwillig. Auch wenn sein Tod mit den Misshandlungen, denen er ausgesetzt war, nicht in direktem Zusammenhang steht: Die Videos auf dem mittlerweile geschlossenen Kick-Kanal markieren eine bisher undenkbare Form von Gewaltinszenierung. Warum will man das sehen? Was geht in den Menschen vor, die sich das anschauten wie ein Fussballspiel?
Gewalt als Unterhaltung sei grundsätzlich nichts Neues, sagt der Medienpsychologe Daniel Süss von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und der Universität Zürich. Reality-TV-Formate wie «Big Brother» oder «Dschungelcamp» beruhten darauf, dass sich Menschen freiwillig demütigen liessen.
«Die sind ja selbst schuld»
Mit JP sei allerdings eine neue, extreme Stufe erreicht. Sich an Gewalt zu ergötzen, sei ein Tabubruch, der für viele Menschen eine erregende Wirkung haben könne. Sie hätten Teil an etwas, von dem sie wüssten, dass es an sich unerlaubt sei. Schuldgefühle hätten sie dabei kaum. Denn sie rechtfertigten sich damit, das Ganze sei nur inszeniert. Von Menschen, die sich freiwillig dafür hergeben: «Dann sagen sich die Zuschauer: ‹Die sind ja selbst schuld, dass sie sich das antun›, und entlasten ihr Gewissen damit.»
Ist das eine Form von Schadenfreude? «Durchaus», sagt Süss: «Fail-Videos, bei denen man zusehen kann, wie Menschen an der Tücke des Objekts scheitern, sind ja äusserst beliebt, und das schon seit langem.» Zu Streams, in denen Menschen live geschlagen werden, sei es von da aus natürlich ein langer Weg. «Aber es gibt viele Attraktionen, die davon leben, dass etwas schiefgehen kann – und dass das im schlimmsten Fall tödlich ist: Stunts, Hochseilakte.»
In der Aufmerksamkeitsökonomie zahle sich das aus, sagt Süss. «Wenn Menschen erleben, dass das, was sie tun, zu Erfolg führt, sind sie bereit, höhere Risiken auf sich zu nehmen, um noch mehr Erfolg zu haben.» Auf diesem Prinzip beruhte auch der Videokanal um JP. Und das, sagt Süss, könne den Zuschauern wieder dazu dienen, ihr Gewissen zu entlasten. JP sagte von sich, er habe zeitweise sechstausend Euro pro Monat verdient – für viele seiner Zuschauer ein Lohn, den sie nie erreichen. «Da sagten sich wohl viele: Wenn er so viel verdient, muss er eben auch etwas auf sich nehmen», sagt Süss.
Moralische Grenzen
Zudem ergebe sich bei Online-Angeboten ein «Enthemmungs-Effekt». Als Zuschauer sei man anonym, Nachbarn und Freunde könnten einen nicht beobachten, es seien keine Autoritäten sichtbar. Deshalb scheine das Netz als rechtsfreier Raum. Dass beim Konsumieren von Gewaltvideos unter Umständen moralische Grenzen überschritten würden, sei den meisten Zuschauern bewusst. Aber selbst das trage für viele Menschen zum Kick bei: etwas Verbotenes zu tun, ohne sich dabei erwischen zu lassen.
Und das Mitleid? Ist es ausgeschaltet bei den Menschen, die sich diese Streams angeschaut haben? «Menschen, die sehr empathisch sind», sagt Süss, «werden sich solche Videos kaum anschauen.» Solche Gewaltvideos seien auch im zunehmend enthemmten Netz ein Nischenprodukt. Allerdings eines, dem man mehr Aufmerksamkeit widmen müsse. Die Alterskontrollen auf Videoplattformen seien viel zu leicht zu umgehen, sagt Süss. Den Zugang zu Gewalt und pornografischen Inhalten für Jugendliche zu erschweren, wäre ein erster Schritt.