Nach sechs Jahren verlässt der dienstälteste Coach die Super League. Die Ostschweizer haben eine Saison hinter sich, die wegen der belasteten teaminternen Atmosphäre viel Energieverlust brachte. Nun können alle ihr Gesicht wahren.
Was ist da los? Solche Gedanken schossen einigen Verantwortlichen des FC St. Gallen in den letzten Wochen durch den Kopf. Und dies, obschon der 61-jährige Trainer Peter Zeidler und die Mannschaft mit der Qualifikation für den Europacup ein Saisonziel erfüllt hatten. Die heimische Arena besuchten im Schnitt über 17 700 Personen, auch andere Kennzahlen im Klub kennen nur eine Richtung: nach oben.
Aber eben: Die Stimmung im Team ist mässig, bisweilen sogar belastet geblieben. Über Wochen. Von Verkrampfung und Ohnmacht ist die Rede, vom Auseinanderdriften wichtiger Spieler und des Coachs, der an seiner Linie festhält und offenbar kaum zu Kompromissen bereit ist. Das Gefühl bleibt haften, dass der Klub zwar neben, nicht aber auf dem Rasen vorwärtskommt. Letztlich dreht er sich im Kreis. Die Leistungskurve des Teams bleibt schwankend. Immer wieder müssen Schwächephasen erdauert und erklärt werden.
Nun löst sich in St. Gallen ein sich anbahnendes Personalproblem von allein. Mit dem am Montagmorgen offizialisierten Abgang von Peter Zeidler zum Bundesligaklub Bochum können alle Seiten ihr Gesicht wahren. Manche sprechen sogar von einer «Erlösung». Oder zumindest davon, dass dem Klub im Sommer 2024 auf diesem Weg Debatten erspart bleiben, die Energie rauben.
Der Klub muss sein Credo nicht umstossen
Der Klub muss sein Credo «Wir sind anders» nicht aufgeben und entlässt keinen Trainer. Ein kleiner Batzen für die Ablöse soll allerdings nicht fällig sein, obschon Zeidler in St. Gallen einen Vertrag bis 2027 besitzt. Höchstwahrscheinlich kommt eine Vertragsklausel zum Zug; über die Ablösemodalitäten haben die beiden Klubs Stillschweigen vereinbart. Der Deutsche steigt damit von der Super League in die Bundesliga auf und verlässt St. Gallen erhobenen Hauptes. Und viele Leistungsträger müssen nicht mehr auf den Mund sitzen, reiben sich nicht mehr in internen Diskussionen auf und können fortan zeigen, dass mit einem anderen Trainer mehr möglich ist.
Spätestens Anfang 2023 erregte der FC St. Gallen in der Öffentlichkeit Aufsehen, als er den bis 2025 datierten Vertrag mit Zeidler ohne Not und frühzeitig bis 2027 verlängerte. Das war wie ein Beleg eines Langzeitprojekts, das den SC Freiburg zum Vorbild hat. Das Leitmotiv: Wir halten auf Gedeih und Verderb am Trainer fest und kippen nicht im ersten Gegenwind um. Der Präsident Matthias Hüppi wirkt wie Zeidler seit 2018 in der Ostschweiz, zum Duo gesellte sich während Jahren der Sportchef Alain Sutter, der allerdings den Klub Anfang 2024 «schockartig» verlassen musste, wie er hinterher sagte.
Das von gegenseitigem Vertrauen geprägte Triumvirat bröckelte, als sich Sutter weigerte, seine Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen. St. Gallen möchte mehr wie YB sein, obschon YB allein wegen der Grösse eigentlich nicht St. Galler Vorbild sein kann. Auf den eigenwilligen Alain Sutter folgte Roger Stilz, den die Chefetage gerne Sutter zur Seite gestellt hätte. Stilz erkennt schnell, wie viel Kraft ihn und den Klub die Glättung atmosphärischer Störungen im Team kostet.
Wenn nun Zeidler nach Bochum weiterzieht, bleibt vom einstigen Triumvirat nur noch Hüppi.
In St. Gallen gibt’s zu viel Unausgesprochenes
Die letzte Saison bot in St. Gallen Momente, die nur schwer einzuordnen waren. Einerseits kursierten Geschichten über Verwerfungen in Trainings, infolge deren Spieler wie Lukas Görtler oder Jordi Quintilla im Büro des Trainers vorzusprechen hatten. Kurze Zeit später sprachen Zeidler und Görtler vor den Medien, als wäre nichts gewesen und als würden Kleinigkeiten und minimale Anpassungen zur Besserung beitragen. Da blieb viel Unausgesprochenes; man hatte den Eindruck, die Protagonisten würden sich in Parallelwelten aufhalten.
Man muss den Beteiligten zugutehalten, dass sie als Interessengemeinschaft in einem meist gefüllten Stadion ein gewisses Niveau zu halten vermochten. Sie boten in der ersten Saisonhälfte gute und ausschliesslich siegreiche Heimspiele und erreichten am Schluss mit der Europacup-Qualifikation ein Saisonziel. Doch sie schieden im Schweizer Cup in Delsberg bei einem Unterklassigen früh aus und wurden immer wieder zurückgeworfen. Begleitet von der Frage: Was ist da los?
Zeidler machte keine Zugeständnisse
Zeidler passt in das St. Galler Haus, das bisweilen zum Treib- oder Tollhaus werden kann. Er kommuniziert offen und gut, ist nicht auf den Mund gefallen, kann einnehmend sein und verhält sich an der Seitenlinie wie ein Dompteur der Gefühle, die in der Ostschweiz traditionellerweise und allein aus räumlichen Gründen eng mit dem Klub verknüpft sind. Hüppi sprach wiederholt vom «idealen Trainer für unser Spiel». Die Kardinalfrage ist nur, warum Zeidler so stur blieb und wenig Willen für Anpassungen zeigte. Die immer grösser werdende Macht schien etwas mit ihm zu machen.
In Bochum kommt er in eine Liga, die er bereits kennt – nicht als Cheftrainer, aber aus der Zeit zwischen 2008 und 2011, als er Assistenztrainer von Ralf Rangnick in der TSG Hoffenheim war. Die Bochumer schafften es unlängst, in dramatischen Barrage-Spielen gegen Fortuna Düsseldorf aus schier aussichtsloser Lage die Liga zu halten. In Bochum wirkt der Schweizer Ilja Kaenzig als CEO. Mit ihm hat Zeidler schon in Sochaux zusammengearbeitet.
Zeidler ist dem sogenannten Rangnick-Fussball zuzuordnen. In Bochum fliesst nun Vergangenes ineinander. Bochum wurde ab 2022 von Thomas Letsch gecoacht, bis er im April 2024 entlassen wurde. Der Deutsche trainierte einst wie Zeidler Liefering, den Farmklub von Salzburg. Und Letsch übernahm 2015 interimistisch in Salzburg, als dort Zeidler nach einem halben Jahr freigestellt wurde.
Peter Zeidler setzt sich in Bochum gegen den Mitbewerber und früheren FCZ-Trainer André Breitenreiter durch. Ihn erwartet kein gemachtes Nest. Zu turbulent war die letzte Saison, zu nahe war der Abstieg. Viel ist in Bochum im Wandel. Beste Voraussetzung dafür, sich nach sechs St. Galler Jahren neu zu erfinden.