Die Hindu-Nationalisten erzielen erneut eine Mehrheit bei den nationalen Parlamentswahlen. Allerdings bleiben sie deutlich hinter den eigenen hochgesteckten Zielen zurück. Künftig dürfte Modi auf Koalitionspartner angewiesen sein, um regieren zu können.
Vor der Wahl hatte Narendra Modi die Ziele hochgesteckt. Zwei Drittel der Sitze wollte der indische Premierminister mit seinen Verbündeten im Parlament erringen. Seine Bharatiya Janata Party (BJP) gewann zwar laut Hochrechnungen von Dienstag mit ihren Partnern eine Mehrheit der Sitze und kann damit die nächste Regierung bilden. Der 73-Jährige wird Indien also für weitere fünf Jahre regieren können – es ist seine dritte Amtszeit. Allerdings blieb seine Partei deutlich hinter den Erwartungen und ihren eigenen Zielen zurück.
Der Sieg des Hindu-Nationalisten Modi war seit Wochen prognostiziert worden, auch alle Umfragen deuteten in diese Richtung. Am Ende reichte es aber nur mit den Koalitionspartnern der National Democratic Alliance (NDA) für eine Mehrheit im Parlament. Um regieren zu können, wird Modi künftig also auf die Unterstützung der Alliierten angewiesen sein. Von einer Zweidrittelmehrheit, die zum Ändern der Verfassung nötig wäre, ist sein Wahlbündnis weit entfernt.
Die BJP hat Modi in den vergangenen Jahren erfolgreich zu einer Figur geformt, die grösser ist als die Politik, seine Anhänger verehren ihn als eine Art Halbgott. Sein Gesicht prangt auf Lebensmittelrationen, die fast 60 Prozent der Inder und Inderinnen beziehen, es prangte auf den Impfzertifikaten der Covid-Impfung, Modi ist in Indien allgegenwärtig.
Unter Modi wuchs die Infrastruktur, überall in Indien gibt es nun neue Flughäfen und Autobahnen. Es sind sichtbare Zeichen des Fortschritts, die Modi bei den Wählern populär machen.
Die meisten Medien sind auf Regierungslinie
Wahr ist aber auch: Die BJP hat in den vergangenen zehn Jahren ein System geschaffen, das ihre Macht zementieren soll. Kritischer Journalismus ist in Indien seit Jahren unter Druck, die populären TV-Sender sind alle auf Regierungslinie. Mit den sogenannten Wahlanleihen schuf sie ein intransparentes Parteifinanzierungssystem, von dem sie vor allem selber profitierte. Oppositionspolitiker wurden vor den Wahlen festgenommen, die Konten der oppositionellen Kongress-Partei eingefroren.
Mit dem Resultat am Dienstag endete die grösste demokratische Wahl der Welt. Über 960 Millionen Inderinnen und Inder waren wahlberechtigt. 642 Millionen von ihnen nutzten ihr Stimmrecht. Einen Weltrekord nannte es die Wahlkommission am Montag. Dieses Jahr wählten zwar rund 30 Millionen mehr als bei den letzten nationalen Wahlen 2019. Allerdings war die Wahlbeteiligung rund einen Prozentpunkt tiefer als vor fünf Jahren, damals lag sie bei 67,4 Prozent.
Dies kann teilweise mit der extremen Hitzewelle erklärt werden, die Indien seit Wochen heimsucht. Allein in der Hauptstadt Delhi stiegen die Temperaturen vergangene Woche auf über 50 Grad. Es gab zahlreiche Berichte von Hitzetoten im ganzen Land, auch bei der Stimmabgabe und an Wahlkampfveranstaltungen kollabierten Dutzende Menschen. Die Hitze dürfte viele Personen davon abgehalten haben, sich in die langen Schlangen vor den Wahllokalen einzureihen.
Die grosse Euphorie blieb an den Wahlen dieses Jahr aus. Die Modi-Welle, die 2014 und 2019 über das Land geschwappt war, scheint abgeebbt zu sein. Die Selbstverständlichkeit, mit der Modi vor den Wahlen seinen Sieg ankündigte, dürfte ebenfalls dazu beigetragen haben, dass sich viele Wähler gar nicht erst auf den Weg an die Urnen gemacht haben.
Auch deshalb zeigten sich Modi und die BJP im Wahlkampf wohl aggressiver, als viele erwartet hatten. Die Botschaft des wirtschaftlichen Fortschritts, des neuen indischen Selbstbewusstseins, schien bei den Wählern nicht zu verfangen. Also attackierte Modi schon nach wenigen Wahlkampfwochen die muslimische Minderheit im Land und säte bei Hindu-Wählern Angst, dass Muslime ihnen ihr Geld und ihre Rationen wegnehmen würden, sollte die Opposition gewinnen.
Trotzdem fuhr die BJP Verluste ein. Ihr Ziel von 400 Sitzen hat sie deutlich verfehlt. Vor allem die Verluste in ihren Stammlanden in Nordindien müssen der Partei zu denken geben. Der bevölkerungsreichste Teilstaat, Uttar Pradesh, ist eine Art Versuchslabor für die BJP, der dortige Chefminister ist ein extremer Hindu-Mönch.
Der Teilstaat erhält viel Geld aus Delhi mit dem Ziel, ihn in ein wirtschaftliches Zentrum zu verwandeln. Hier hat Modi im Januar einen kontroversen Tempel eingeweiht, der auf den Ruinen einer Moschee gebaut worden ist. Er wollte sich damit als Führer der Hindus profilieren. Trotzdem hat die BJP nun deutlich weniger Sitze geholt als 2019.
Ebenfalls gescheitert ist der Vorstoss der BJP in den ökonomisch stärkeren und besser gebildeten Süden des Landes. Dort wollte sie in diesen Wahlen erstmals eine grössere Zahl von Sitzen erobern. Dafür hat sie gerade im Teilstaat Tamil Nadu grosse Ressourcen in den Wahlkampf investiert. Doch die Investition zahlte sich nicht aus. Zunehmend geht damit ein Riss durch Indien zwischen dem Norden, der die Hindu-Nationalisten wählt, und dem Süden, der den Oppositionsparteien die Treue hält.
Ausländische Investoren benötigt
Dies ist nur eine der Herausforderungen, die Modi in den kommenden fünf Jahren angehen muss. Er hat den Wählern viel versprochen: Wachstum, Wohlstand, Hindu-first-Politik. Wirtschaftswachstum wird es aber nur geben, wenn ausländische Staaten in Indien investieren. Modi braucht diese Investitionen auch, um Jobs zu schaffen, von denen es für Indiens junge Bevölkerung viel zu wenige gibt. Eine noch extremere Hindu-nationalistische Politik könnte ausländische Investoren eher abschrecken.
Modi dürfte mit dieser Wahl in eine «Vermächtnis-Phase» eintreten, so nennen es Beobachter. Er ist 73 Jahre alt, dies dürfte seine letzte fünfjährige Amtszeit sein. Ein Nachfolger, der seine übergrosse Rolle ausfüllen könnte, ist nicht in Sicht, und das indische Volk steht offenbar weniger geeint hinter seiner Politik, als er und seine Strategen dachten. Die Frage ist, was er tatsächlich hinterlassen wird – ein boomendes Indien, oder ein gespaltenes.







