Zum östlichsten Landesteil hatten viele Ukrainer stets ein zwiespältiges Verhältnis. Dass Russland dort immer weiter vorrückt, empfinden sie trotzdem als katastrophalen Verlust.
So schnell wie in den letzten Monaten ist Russlands Armee seit Kriegsbeginn nie vorgerückt. Die Invasoren erobern im Donbass Dorf um Dorf – ein Ansturm, dem die ausgezehrten ukrainischen Einheiten zu wenig entgegensetzen können. Als sie im Frühjahr die Festungsstadt Awdijiwka verloren, mussten sie sich um mehrere Dutzend Kilometer zurückziehen. Seit dem Fall von Wuhledar bröckelt die Front nun auch im Südosten.
Ganz verloren ist der Donbass für die Ukrainer deswegen nicht: Bollwerke wie Pokrowsk, Kramatorsk und Slowjansk halten. Um sie zu erobern, müssten die ebenfalls schwer gebeutelten russischen Streitkräfte Reserven in einer völlig anderen Grössenordnung heranschaffen. Doch mehr als ein Rumpfgebiet dieser rohstoffreichen Steppenlandschaft wird den Ukrainern kaum bleiben. Die militärische Lage zwingt sie, Abschied zu nehmen vom grössten Teil des Donbass, einer wenig geliebten Region, mit der sie ein höchst zwiespältiges Verhältnis verbindet.
Das industrielle Herz des Imperiums
Die Bedeutung des Donbass reichte stets über die Ukraine hinaus. Hier begann die industrielle Entwicklung einer ganzen Weltregion, als im Becken des Flusses Donez riesige Kohlevorkommen entdeckt wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bauten Unternehmer die ersten Minen. Daraus entstand im Russischen Kaiserreich ein Netzwerk von Stahlfabriken, Städten und Häfen für den Export. Ohne den Donbass wäre eine moderne Wirtschaft undenkbar gewesen.
Nach dem Ende des Zarenreichs und der Revolution von 1917 begann der Kampf um die Bodenschätze neu. Deutsche, Ukrainer, Kommunisten und Anhänger der alten Ordnung bekriegten sich. Im Zweiten Weltkrieg war der Donbass ein Hauptziel von Hitlers mörderischem Expansionismus.
Diese blutige Geschichte ist ein Grund für die schwierige Beziehung der Ukrainer zu ihrem östlichsten Landesteil. Stets zahlte die Bevölkerung den Preis für die Pläne der Gewaltherrscher im Osten und im Westen. Selbst als in den dreissiger Jahren kein Krieg herrschte, liess Stalin vier Millionen Ukrainer verhungern. Er brauchte die Exporterlöse aus der Kornkammer, um die Schwerindustrie im Donbass so rasch wie möglich zu entwickeln. Die ukrainischen Bauern sah er als Feinde und unnötiges Hindernis auf dem Weg in die sowjetische Moderne.
Die Kultur dieser Moderne konzentrierte sich in Industriestädten wie Donezk, und sie war russischsprachig. Das Ukrainische hielt sich in der späteren Sowjetunion auf dem Land, in den Dörfern, wo der Druck zur Assimilierung kleiner war. Das prägt bis heute die nationale Mythologie: Sie ist bäuerlich geprägt, traditionsbewusst. Die meisten Menschen im Donbass konnten damit wenig anfangen.
Krieg mit Russland
Dennoch stimmten hier 1991 nur unwesentlich weniger Leute für die ukrainische Unabhängigkeit als im Rest des Landes – über achtzig Prozent. Sie waren unzufrieden wegen des wirtschaftlichen Niedergangs in der späten Sowjetzeit. Die heruntergewirtschafteten Kohleminen wurden zum Symbol des Bankrotts der UdSSR. Allerdings konnte auch der neue ukrainische Staat die Probleme des Donbass nicht lösen. Stattdessen bildete sich hier eine besonders korrupte Elite, die in der Grauzone zwischen Ost und West gute Geschäfte machte.
Mit Wiktor Janukowitsch betrat Anfang des Jahrtausends eine politische Figur die nationale Bühne, die diese mafiösen Netzwerke wie niemand sonst vertrat. Mit mächtigen Oligarchen aus der Rohstoffbranche und engen Beziehungen zu Moskau im Rücken strebte Janukowitsch an die Staatsspitze. Als er 2004 durch Wahlfälschung nach dem Präsidentenamt griff, führte dies zur Orangen Revolution. 2013 löste seine Entscheidung, von der Annäherung an die EU abzurücken, den Euromaidan aus. Für die nach Westen orientierte Mehrheit der Ukrainer wurde er zur Hassfigur und der Donbass zum Symbol der rückwärtsgewandten Sowjetnostalgie.
Die Ostukraine bezahlte den Versuch, sich von Russland zu lösen, teuer. Moskau besetzte die Krim und riss Teile des Donbass mithilfe lokaler, von Russland bewaffneter Separatisten an sich. Bald schickten die Russen eigene Soldaten und Panzer, die Ukrainer mussten sich zurückziehen – aus Luhansk, Debalzewe und Donezk.
Der Schriftsteller Serhi Schadan (Serhij Zhadan) hat die verschwimmenden Fronten und die Angst der Menschen vor dem Ungewissen in seinem Roman «Internat» packend geschildert. Er beschreibt auch, wie viele der Menschen im Donbass abwarten und beobachten, welche Seite gewinnt, bevor sie sich für eine von ihnen entscheiden. Auch dieser Wesenszug lässt sich aus der historischen Erfahrung erklären.
Um einen militärischen Kollaps zu verhindern, musste Kiew 2015 im Minsker Abkommen Russlands Kontrolle der besetzten Gebiete de facto anerkennen. Danach gruben sich beide Seiten im Donbass ein und bauten Verteidigungslinien mit den wichtigsten Städten als militärischen Bollwerken.
Einheit auf die Probe gestellt
Die Zeit des Abwartens war für die Bevölkerung vorbei: Manche fanden sich plötzlich unter russischer Okkupation, Hunderttausende mussten fliehen – in den Osten oder den Westen. In der Zentral- und Westukraine waren nicht alle Vertriebenen willkommen. Bis heute halten sich Vorurteile über die Unkultiviertheit der Zuzüger aus dem Donbass, denen gern eine latente Russlandfreundlichkeit unterstellt wird.
Trotzdem musste auch Moskau 2022 lernen, dass sich der ukrainisch kontrollierte Donbass verändert hatte. Nun wartete hier kaum jemand mehr darauf, Teil der «russischen Welt» zu werden. Vielmehr leistete die Armee den Invasoren erbitterten Widerstand. Es kämpfen auch viele Männer aus dem Donbass, die zwar Russisch sprechen, ihre Zukunft aber in der Ukraine sehen. Der Schock über Russlands Überfall schuf eine auch für die Ukrainer überraschende Einheit. Der Verteidigungskampf ebnete regionale und sprachliche Unterschiede ein.
Die Länge des Krieges, die Rückschläge an der Front und die Kosten des Abwehrkampfs für jede einzelne Familie stellen die ukrainische Einheit nun aber erneut auf die Probe. Teilweise brechen die alten Ressentiments im Donbass wieder auf. Wer mit Militärangehörigen spricht, hört zunehmende Frustration über die angebliche Passivität der Bevölkerung. Diese ist wütend, dass die Soldaten sie nicht vor Russlands Bomben beschützen – sie vielleicht sogar zum Ziel machen, wenn Städte zu Militärlagern werden.
Weiter westlich sehen viele Ukrainer den Krieg seit Russlands gescheitertem Angriff auf Kiew als Problem im Donbass, diesem Gebiet, das zur Ukraine gehört, ihr aber geistig auch fremd geblieben ist. Der Unterschied zwischen dem relativen Frieden des Hinterlands und den Ruinenstädten des Donbass ist riesig. Mourir pour le Donbass? Diese Frage beantworten jene Ukrainer, die noch nicht in der Armee kämpfen, immer häufiger mit Nein.
Selbst überzeugte Patrioten räumen in Gesprächen ein, dass sie nicht mehr sicher sind, ob der riesige Blutzoll gerechtfertigt war. Zum Abschied vom Donbass ist eine Mehrheit dennoch nicht bereit: Laut einer Umfrage des Internationalen Kiewer Instituts für Soziologie lehnten Anfang November 58 Prozent territoriale Konzessionen ab, selbst wenn sich der Krieg damit beenden liesse.
Wachsende Bereitschaft, auf den Donbass zu verzichten
Gleichzeitig hat sich seit 2022 die Zahl jener auf 32 Prozent verdreifacht, die Gebiete abtreten würden, wenn die Ukraine dafür ihre Unabhängigkeit bewahrte und Frieden erhielte. Ginge es dabei nur um den Donbass, so wäre in allen Landesteilen ausser der Zentralukraine eine knappe Mehrheit bereit, einen Verlust zu akzeptieren.
Die zunehmend prekäre militärische Lage erhöht die Neigung der Ukrainer, sich gedanklich mit dem abzufinden, was sie als unabwendbar betrachten. Der Donbass wäre für sie dennoch ein bitterer Verlust, zumal sie daran zweifeln müssen, dass er Putin genügen würde. Russlands Präsident will die Ukraine als Nation vernichten, und mit dem Donbass fiele auch die wichtigste Verteidigungslinie im Osten. Sein Verlust würde die Ukraine nur noch verwundbarer machen.