Sowohl Ukrainer wie Russen nutzen die Plattform, um Spenden für ihre Soldaten zu sammeln, Militärstrategien auszutauschen, Propaganda zu verbreiten. Dabei wird auch um die Gestalt der Demokratie in der Ukraine gerungen.
Der wichtigste Ort, an dem in der Ukraine und in Russland seit Februar 2022 digitale Kriegsöffentlichkeiten entstehen, ist das Mobiltelefon. Telegram ist auf beiden Seiten der Front die zentrale App. Staatliche Kanäle melden dort zeitnah die Flugrouten iranischer Kamikazedrohnen und russischer Lenkwaffen, die in ukrainischen Luftraum eindringen. Wer seinen Standort im Kanal «Ukryzzjo» eingibt, erhält innerhalb von Sekunden die Adresse des nächstgelegenen Luftschutzkellers.
Um sich gegen die Folgen des russischen Überfalls zu stemmen, kommunizieren in der Ukraine Zivilgesellschaft und Vertreter des Staats mithilfe der Plattform. Dazu organisieren sie sich in Zehntausenden Gruppen und tauschen im Kriegsalltag Informationen aus. Sie sammeln Spenden für Einheiten an der Front, suchen nach Unterkünften für Binnenflüchtlinge und bringen Psychologen mit Traumatisierten zusammen.
Zur selben Zeit flutet der russische Staat auf Telegram Tausende Kanäle im Minutentakt mit Botschaften der Moskauer Propagandamaschine, die weiterhin faktenwidrig behauptet, in Kiew herrsche eine nazistische Junta. Aber auch in Russland sammeln Telegram-Nutzer Spenden für Einheiten an der Front. Experten streiten in beiden Ländern auf Telegram über die Entwicklung neuer Drohnen, Militärblogger fachsimpeln über Taktik und Strategie.
Einfluss auf die Kriegsführung
Die Möglichkeit, auf Telegram Millionen Leser und Zuschauer mit relativ geringem Aufwand zu erreichen, verändert die Art der Kriegsführung. Die Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft im Angesicht der existenziellen Bedrohung fand auch mithilfe der digitalen Plattform statt, denn sie ermöglicht den Nutzern, die Anordnung privater Kommunikation und einer grossen Zahl unterschiedlicher Nachrichtenquellen selbst vorzunehmen.
Russland nutzt Telegram, um aus seiner Bevölkerung eine neue politische Gemeinschaft zu schmieden, die in ihrem Streben, die Ukraine auszulöschen, zunehmend geeint ist. Zugleich informieren sich russische Bürger selbst auf Telegram, was wichtige ukrainische Kanäle über den Krieg berichten, um einen Abgleich mit der russischen Darstellung vorzunehmen. Auf der Plattform ringen einzelne Akteure des Kriegs um Aufmerksamkeit im Inneren wie im Äusseren.
Die Popularität von Telegram beruht auf dem Mythos, die Architektur der Plattform schütze vor staatlichen Eingriffen. Der Gründer Pawel Durow entwarf sie 2013 gemeinsam mit seinem Bruder Nikolai, nachdem der russische Inlandsgeheimdienst den Zugang zu Nutzerdaten der russischen Facebook-Kopie Vkontakte erzwungen hatte. Zugleich verbleibt die Verschlüsselung von Direktnachrichten bis heute eine Option, die bei Installation der App nicht automatisch aktiviert ist.
Die Erzählung vom angeblichen digitalen Bollwerk Telegram wurde durch die Verhaftung Durows im August 2024 in Frankreich noch gestärkt, obwohl er erst nach Zugeständnissen an die französische Staatsanwaltschaft in der Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden freigelassen wurde.
Weniger bekannt ist der zweite Grund, warum Telegram nicht nur in der Ukraine und Russland beliebt ist. Der Nachrichten-Feed der Nutzerinnen wird anders als bei den meisten Plattformen nicht von Algorithmen zusammengesetzt, sondern allein von ihnen selbst. Statt nur Konsumenten zu sein, übernehmen sie beim Auswählen und Anordnen der Kanäle die Arbeit von Redaktoren.
Der Propagandakrieg tobt auch auf Deutsch
Telegram verändert nicht nur in der Ukraine und in Russland die gesellschaftliche Kommunikation und lenkt sie zunehmend in geschlossene Kanäle, in denen oft nur eine Wahrheit, eine Sicht auf Gegenwart und Vergangenheit vermittelt wird. Auch im deutschsprachigen Internet hat die digitale Plattform die Entstehung kanalisierter Formen digitaler Öffentlichkeit beschleunigt. Sie ist eine Infrastruktur, um eigene Interpretationen der Gegenwart in der Ukraine oder der jüngsten Vergangenheit der Covid-19-Pandemie auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu verbreiten.
Die Fragen, wann der Krieg im Donbass begann, welche Rolle die Nato dabei spielte und ob der jüdische Präsident der Ukraine, Wolodimir Selenski, ein von den USA gesteuerter Nazi sei, werden nicht fernab des Schlachtfelds gestellt. Sie sind Teil eines Propagandakriegs, der in diesem Moment auch auf Deutsch auf Telegram um die Deutungshoheit geführt wird.
Die Logik der Kanalisierung digitaler Teilöffentlichkeiten bildet nicht nur die Radikalisierung des physischen Kampfes an der Front des russisch-ukrainischen Kriegs ab, der derzeit mit schwerem Kriegsgerät, mit Killerdrohnen, Marschflugkörpern und Artilleriegeschützen um die Zukunft der Ukraine geführt wird. Sie prägt auch eine grundlegende Veränderung sozialer Kommunikation im frühen 21. Jahrhundert.
Gesellschaften sind geprägt von der realen und der gedachten horizontalen Kommunikation ihrer Mitglieder. Dabei ist Kommunizieren auch in digitalen Räumen soziales Handeln, mit dem alle Internetnutzer und Datenproduzenten durch das Wo, Was und Wie tagtäglich Einfluss auf die Zukunft des Zusammenlebens nehmen. Folgt man diesem Gedanken, ist Telegram eine wichtige Nahkampfzone, in der auf Dutzenden Millionen Mobiltelefonen um die Gestalt der Demokratie in der Ukraine und im westlichen Europa gerungen wird.
Der Kulturwissenschafter und Historiker Felix Ackermann ist Professor an der Fernuniversität Hagen und erforscht zurzeit die Geschichte von Telegram.