Ein schwächelnder Aktienkurs von Roche und Rückschläge in der Forschung nagen am Renommee des Topmanagers. Ist die Kritik gerechtfertigt?
Für Severin Schwan war es quasi eine Routineveranstaltung. Im Beisein von Bundesrat Guy Parmelin hat der Verwaltungsratspräsident von Roche kürzlich ein neues Forschungszentrum in Basel eröffnet. Erst zwei Jahre zuvor hatte Bundesrat Ignazio Cassis dem Pharmakonzern die Aufwartung gemacht – direkt daneben, zur Einweihung des höchsten Gebäudes der Schweiz. Für das erste, unterdessen nur noch zweithöchste Hochhaus auf der anderen Strassenseite, war ein paar Jahre früher Bundesrat Alain Berset ans Rheinknie gereist.
Der Aufmarsch der Landesregierung ist kein Wunder. Firmen, die innerhalb weniger Jahre Milliarden von Franken in den Standort investieren und 2,5 Prozent zum Bruttoinlandprodukt der Schweiz beitragen, gibt es nicht viele. Dass ein solches Unternehmen ein gesundes Selbstbewusstsein an den Tag legt – man kann es Roche nicht verübeln.
Doch das Renommee des Managers Schwan, der an jenem Tag auf einer kleinen Bühne zu den geladenen Gästen sprach, wurde in jüngster Zeit etwas strapaziert.
Rückschläge in der Forschung haben zu einer drastischen Schrumpfung des Börsenwerts von Roche geführt. Die Kursentwicklung wirkt erst recht enttäuschend, wenn man sie mit derjenigen der beiden Konkurrenten Novo Nordisk und Eli Lilly vergleicht. Diese spielen derzeit in einer anderen Liga dank ihren Abnehmmedikamenten – ein Gebiet, in dem Roche nun mit Verspätung auch Fuss zu fassen versucht.
Dass Schwan bei der Credit Suisse bis ein Jahr vor deren Untergang als Vizepräsident die Nummer zwei im Verwaltungsrat der Grossbank war, macht das Bild nicht besser.
Plötzlich tauchte die Frage auf, wie der Leistungsausweis des sympathischen Österreichers, der unterdessen auch einen Schweizer und einen deutschen Pass besitzt, beim Pharmakonzern zu werten ist. Schwan hat die Firma vor seinem Wechsel aufs Präsidium 2023 ganze 15 Jahre als CEO geführt.
Dafür hat er zunächst 8 und dann jährlich zuverlässig zwischen 11 und 12,5 Millionen Franken bezogen. Diese versteuert er im Kanton Basel-Stadt, was keine Selbstverständlichkeit ist. Es sind schon Leute für bescheidenere Beträge nach Wollerau geflüchtet. Die lokale Verankerung trägt aber ebenso zum Bild des Managers mit Bodenhaftung bei wie das Pendeln mit dem E-Bike zur Arbeit.
Die Frage nach den grossen Kassenschlagern
Zentral für die Antwort nach der Bilanz des 56-Jährigen ist, wie gut die Pipeline von Roche mit Medikamentenkandidaten gefüllt ist, die langfristig Einnahmen in Milliardenhöhe sichern. Das ist der Punkt, der Analysten umtreibt, weil sie unter den vielen Projekten noch nicht den ganz grossen künftigen Kassenschlager erkennen.
Es wäre unfair, Schwan – oder irgendeinen Pharma-CEO – dafür verantwortlich zu machen, dass seine Firma dieses oder jenes Wundermittel nicht erfunden hat. Die jüngsten Ankündigungen seines Nachfolgers Thomas Schinecker zeigen aber, dass man das Thema Forschung und Entwicklung anders angehen kann.
Anders heisst fokussierter, mit einer Beschränkung auf nur noch elf verschiedene Krankheiten. Anders heisst aber auch effizienter und günstiger, indem Doppelspurigkeiten eliminiert und IT-Systeme vereinheitlicht werden.
Schinecker liess bei der Präsentation seiner neuen Strategie durchblicken, dass die Einsparungen bisher nicht gemacht worden seien, weil der Druck gefehlt habe. Es war schlicht zu viel Geld da. Für das laufende und das nächste Jahr hat er deshalb die Forschungsbudgets nicht erhöht. Projekte mit geringen Erfolgschancen wurden eingestellt.
Das sind alles Unterschiede zum Regime unter Schwan, in dem die Forschungskosten jeweils mit dem Umsatz oder gar noch stärker gewachsen sind. Zudem waren die Forscher unter dem offenen Ansatz «Folge der Wissenschaft» weniger eingeschränkt.
Systematisch und überlegt
Mitstreiter attestieren Schwan, dass er Dinge zwar überdurchschnittlich rasch durchschaue. Trotzdem konnte er die Geduld von Kollegen strapazieren, indem er immer noch eine weitere Frage stellte. Schwan redet gerne. Wenn er einmal in Fahrt kommt, ist er in seiner Begeisterung nur schwer zu stoppen.
Möglicherweise ist sein Hang, alles extrem systematisch und überlegt anzugehen, ein Hindernis, wenn es darum geht, Dinge rasch zu konkretisieren. Nachfolger Schinecker gilt als der zupackendere Typ. Im Manager-Slang würde man von «execution» sprechen, also Ausführung. Eine detaillierte Aufstellung zu den Forschungszielen, wie er sie vor ein paar Tagen präsentiert hat, hätten sich Investoren schon von seinem Vorgänger gewünscht.
Schwans Vorsicht hat auch die Akquisitionspolitik geprägt. Nur selten war er bereit, für eine Wette auf ein neues Medikament einen grösseren Milliarden-Zukauf zu machen. Rückblickend hätte er es wohl besser auch in den wenigen Fällen bleiben lassen, in denen er zugegriffen hat. Sowohl bei der Firma Intermune als auch bei Spark musste Roche später grosse Abschreiber vornehmen.
Lieblingsthema Daten
Nicht erfüllt haben sich zudem die Hoffnungen beim New Yorker Unternehmen Flatiron, einem Spezialisten für Daten zu Krebsbehandlungen. Kürzlich spekulierte die «Financial Times» über einen Verkauf der Firma. Das wäre ein Rückschlag für die Idee, bei Roche in ferner Zukunft neben Pharma und Diagnostik ein drittes Standbein mit Gesundheitsdaten aufzubauen.
Vielleicht ist Schwan mit seiner ausgeprägten Fortschrittsgläubigkeit der Realität voraus. Man denke nur an die langwierige Einführung des elektronischen Patientendossiers in der Schweiz, für das der Manager bei jeder Gelegenheit weibelte – von den per Fax übermittelten Covid-Fallzahlen ganz zu schweigen.
Angesichts von Schwans ungewöhnlich langer Amtszeit geht in der aktuellen Diskussion etwas Entscheidendes gerne vergessen. Dem Unternehmen ist es neben der komplexen Integration der kalifornischen Biotechfirma Genentech in der Ära Schwan gelungen, eine gigantische Patentklippe zu meistern.
Das bedeutet: Die Milliardenumsätze der drei Krebsmedikamente Avastin, Herceptin und Mabthera, die wegen Ablaufs des Patentschutzes weggebrochen sind, konnte der Konzern mit neuen Produkten mehr als kompensieren. Die Bedeutung dieser Entwicklung kann man kaum hoch genug einschätzen.
Natürlich sind bei solchen wissenschaftlichen Durchbrüchen immer Glück und Zufall im Spiel. Doch anders als bei vielen anderen Pharmafirmen sind Roches Umsätze vorerst einmal nicht in vergleichbarem Ausmass von Patentabläufen bedroht.
Die entscheidenden Studienresultate kommen erst
Wie stark das Unternehmen darüber hinaus mit neuen Produkten wachsen kann, wird sich hingegen erst im Verlauf der nächsten Jahre zeigen. Je nach Studienresultaten wird dann das Urteil über die Zeit unter Schwan besser oder schlechter ausfallen.
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen bei der Konkurrenz hat Schwan mit den Gründerfamilien Hoffmann und Oeri/Duschmalé Mehrheitsaktionäre hinter sich, die nicht auf eine kurzfristige Maximierung des Aktienkurses drängen.
Sonst hätte er – zum Beispiel – vielleicht schon längst die Diagnostiksparte abgespalten. So hingegen hält Roche an dem zweiten Standbein fest – aus der Überzeugung, dass Prävention und Früherkennung von Krankheiten und damit Tests langfristig wichtiger werden.
Diese Strategie kann Schwan als Verwaltungsratspräsident weiter umsetzen. Die Familien hatten ihn 2023 auf diesen Posten gehievt und das Intermezzo mit dem branchenfremden Präsidenten Christoph Franz beendet. Eine weitere Figur mit Topmanagement-Erfahrung in einem Pharmakonzern könnte dem Aufsichtsgremium neben Schwan und Ex-Nestlé- und Ex-Fresenius-Chef Mark Schneider aber wohl nicht schaden.
Die Besetzung des Präsidentensessels mit Schwan war für die Familie naheliegend. Klar hat er Jahr für Jahr eine Erhöhung der Dividende möglich gemacht, er ist aber vor allem eine Vertrauensperson und eine Integrationsfigur.
Warum Schwan zu Roche kam
Am Anfang von Schwans Weg bis ganz zuoberst an die Spitze von Roche stand ein akribisches Auswahlprozedere, mit dem sich der ehrgeizige Tiroler seinen ersten und bisher einzigen Arbeitgeber ausgesucht hat. Als Absolvent eines Jus- und eines Wirtschaftsstudiums überliess er nichts dem Zufall, verglich Firmen nach Ländern, Branchen und Karrieremöglichkeiten. Den Ausschlag für Roche gab schliesslich der Ruf, den die Firma damals aufgrund ihrer innovativen Finanzierungsinstrumente unter den Wirtschaftsstudenten hatte.
Tatsächlich schafft es Schwan, unter dem legendären Roche-Finanzchef Henri B. Meier mit anderen Nachwuchstalenten auf die Karriereroute in der Finanzabteilung zu kommen. Meier war zunächst nicht restlos überzeugt, sollte seine Meinung aber bald ändern.
Auch der Konzernchef Franz Humer hatte Vorbehalte, ob Schwan als Finanz-Mann die richtige Person für die Diagnostikleitung in Asien sei. Doch Schwan machte den Job so gut, dass Humer ihn wenig später zum Leiter der Diagnostiksparte und danach 2008 zu seinem Nachfolger als Konzernchef erkor. Da war Schwan knapp 40 Jahre alt.
Nach der Anfangsphase auf dem Spitzenposten hat er sich unter dem Präsidenten Humer relativ bald einmal freigeschwommen und genoss einen breiten Handlungsspielraum. Beobachter hoffen, dass Schwan heute als Präsident diese Freiheiten seinem Nachfolger Schinecker ebenfalls einräumt.
Wer nicht zur Kultur passt, verlässt die Firma
Freiheit ist bei Roche immer im Rahmen der starken Firmenkultur zu verstehen. Das Unternehmen ist stolz auf seine interne Nachwuchsförderung. Loyalität wird grossgeschrieben, Arroganz ist geächtet. Personen, die nicht hineinpassen, werden früher oder später abgestossen wie Fremdkörper.
Um den Zusammenhalt wird Schwan auch bei den Nachkommen von Firmengründer Fritz Hoffmann-La Roche besorgt sein. Hier steht früher oder später ein Generationenwechsel im Verwaltungsrat an, wenn dereinst André Hoffmann an eine jüngere Vertreterin oder einen Vertreter aus dem Hoffmann-Zweig übergibt. Auf der Oeri-Seite hat diese Wachablösung mit dem Einzug von Jörg Duschmalé in das Aufsichtsgremium bereits stattgefunden.
Diese Aufgabe ist insofern einfacher geworden, als Roche den Einfluss der Gründerfamilien gestärkt hat, indem sie die von Novartis zurückgekauften Roche-Aktien vernichtet hat. Damit erhöhte sich der Stimmenanteil der Erben automatisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass abtrünnige Familienmitglieder das austarierte Kräftegleichgewicht an der Konzernspitze mit Schwan als Schlüsselfigur ins Wanken bringen, ist noch kleiner geworden.