Die 18-jährige Muriel Furrer starb Ende September nach einem Sturz. Noch immer fragt sich die Radwelt, weshalb sie so lange nicht gefunden wurde. Furrers Eltern fordern bessere Tracking-Systeme.
«Wo ist Muriel Furrer?» Diese Frage stellt sich am 26. September 2024 die Radwelt. Muriel Furrer, ein 18 Jahre altes Radtalent, verstarb an den Weltmeisterschaften in Zürich nach einem Sturz im Strassenrennen der U 19. Seit dem Unglück haben die Eltern Christine und Reto Furrer geschwiegen. In einer Reportage von «The Athletic», dem Sportteil der «New York Times», reden sie erstmals über den Unfalltod ihrer Tochter.
Am Renntag regnet es in Zürich, schwierige Bedingungen zwar, aber fahrbar für ambitionierte Nachwuchsfahrerinnen wie Muriel Furrer. Mit dem Radsport hat sie als Mountainbikerin begonnen, im Peloton gilt sie als technisch versierte Fahrerin. Ihre Eltern erzählen «The Athletic», wie sie ihre Tochter an den WM zunächst in Uster angefeuert hatten und dann nach Zürich fuhren, um das Rennen in einer Steigung an der Zürichbergstrasse weiterzuverfolgen. Dort warten sie vergeblich – und beginnen sich Sorgen zu machen.
Das Rennen der Juniorinnen verläuft chaotisch, das Leistungsgefälle ist riesig. Einige Fahrerinnen seien bereits auf den ersten Kilometern abgehängt worden, für die Begleitfahrzeuge sei es schwierig gewesen, diese zu überholen, nahe bei den eigenen Fahrerinnen zu sein, einen Überblick über das Rennen zu erhalten. Das sagt Kathrin Stirnemann, die U-19-Nationaltrainerin der Schweiz, die während des Rennens im Begleitfahrzeug von Swiss Cycling sass.
Die Nationaltrainerin telefoniert herum – niemand weiss etwas
Der Parcours des WM-Rennens führt in zwei Runden um Zürich. Es ist kurz nach 11 Uhr, als Furrer mit drei Konkurrentinnen eine Abfahrt bei Küssnacht in Angriff nimmt. Dort kommt sie in einer Linkskurve von der Strecke ab. Weder die Fahrerinnen ihrer Gruppe noch ein Streckenposten, der nur 60 Meter entfernt steht, bemerken das Unglück. Die Passage liegt wenige Kilometer von Furrers Wohnort Egg entfernt, sie ist die Abfahrt im Training schon Dutzende Male gefahren. Der Vater Reto Furrer sagt: «Sie kannte dort jeden Meter, jede Kurve.»
Als die Fahrerinnen die Stelle an der Zürichbergstrasse passiert haben und er seine Tochter nirgends entdeckte, ruft der Vater Stirnemann an. «Wisst ihr, wo Muriel ist?», fragt er. Die Antwort der Nationaltrainerin: «Wir suchen sie gerade.» Stirnemann telefoniert herum, fragt in der Verpflegungszone und beim Teamarzt von Swiss Cycling nach. Vergeblich. Muriel Furrer liegt zu diesem Zeitpunkt schwer verletzt in einem Waldstück oberhalb von Küsnacht. Wie konnte das passieren?
Oliver Senn war an den WM der sportliche Leiter des Organisationskomitees. Auch er kommt im Artikel von «The Athletic» zu Wort. Senn sagt, wegen des Regens seien in der Abfahrt zusätzliche Streckenposten aufgeboten worden. «Die Stelle ist nicht speziell gefährlich. Ich glaube, dass wir die adäquaten Sicherheitsmassnahmen getroffen haben», sagt Senn.
«Alle waren nervös, alle hatten Angst»
Ob die Abfahrt bei Küssnacht genügend gesichert gewesen ist, ist Gegenstand von laufenden Ermittlungen. Ein Strafverfahren ist bis jetzt noch nicht eröffnet worden, teilen die Behörden mit. Doch die Frage, wie eine Fahrerin während eines WM-Rennens verschwinden konnte, beschäftigt nicht nur ihre Eltern.
Nach dem Telefonat mit der Nationaltrainerin Stirnemann gehen Christine und Reto Furrer ins Zielgelände auf dem Sechseläutenplatz. Dort warten sie beim Teambus der Schweizerinnen. Die Siegerin des U-19-Rennens überquert die Ziellinie um 11 Uhr 58. Fahrerin um Fahrerin kommt an, nur Furrer nicht. Die Mutter sagt über die bangen Minuten: «Alle waren nervös, alle hatten Angst.»
Das Rennen ist vorbei. Es ist 12 Uhr 36. Der Vater versucht die Tochter auf dem Mobiltelefon zu erreichen. Er hofft, sie sitze irgendwo am Strassenrand, enttäuscht über den Rennausgang, aber unversehrt. Dann kommt ein Funktionär des Rad-Weltverbands UCI zu ihm. Er sagt, der Tracker seiner Tochter zeige eine Position oberhalb von Küssnacht an. Dort findet ein Helfer Furrer – anderthalb Stunden nach dem Unfall.
Ein Rettungshelikopter fliegt Furrer mit einer Schädelverletzung ins Spital. Notoperation. Sie stirbt am nächsten Tag. Der Vater sagt: «Für mich dauerte es zu lange, bis sie gefunden wurde.» Er sei 30 Minuten nach dem Sturz schon sicher gewesen, dass etwas passiert sei. «Wenn man einen Tracker hat, sollte man den auch nutzen», sagt er.
Die Velos der Juniorinnen im WM-Rennen waren mit Transpondern ausgestattet, die die Passage gewisser Checkpoints entlang der Strecke erfassten und ein rudimentäres Tracking erlaubten. Die Daten erhielten auch die Begleitmotorräder, zur Identifikation der Fahrerinnen in der TV-Übertragung. Doch um lückenloses Tracking sicherzustellen, hätte es ein Motorrad in der Nähe gebraucht.
Reto Furrer fordert deshalb bessere Trackingsysteme und sagt: «Ich hoffe, dass Änderungen vorgenommen werden. Wir müssen sicherstellen, dass so etwas nie mehr passiert.» Und die Schweizer Nationaltrainerin Stirnemann sagt: «Kommt es zu einem Unfall, muss der Tracker einen Alarm auslösen. Und es braucht eine Person, die die Daten überwacht.» Umso mehr, weil es solche Systeme geben würde, dem Vernehmen nach wurden sie den Organisatoren der Weltmeisterschaft auch angeboten, zum Beispiel von einem Wissenschafter der ETH.
«The Athletic» konfrontiert auch die UCI mit der Forderung nach einem besseren Tracking. Der Weltverband verweist in einer Stellungnahme auf die laufende Untersuchung und schreibt: «Wir untersuchen mögliche Lösungen, die es einer möglichst grossen Zahl von Veranstaltern und Teams ermöglicht, jederzeit und live auf Tracking-Daten zuzugreifen. »
Ob Muriel Furrer überlebt hätte, wäre sie früher gefunden worden? Das weiss niemand.