Ein schwacher König und ein Kanzler, der regiert: Das ist bis heute das Bild von Wilhelm I. und Otto von Bismarck. Der Historiker Jan Markert revidiert es grundlegend.
Es sei nicht leicht, unter diesem Kanzler Kaiser zu sein, soll der alte Kaiser Wilhelm I. über Otto von Bismarck gesagt haben. So sieht es die Nachwelt bis heute: Bismarck als der prägende europäische Staatsmann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, der sich des schwachen Königs von Preussen und späteren ersten deutschen Kaisers Wilhelm als Vehikel bedient hat.
Dieses Bild erfährt nun eine fundamentale Revision. Der Historiker Jan Markert hat den umfangreichen brieflichen Nachlass Wilhelms gesichtet, als Erster überhaupt. Er kommt zum Schluss, der Anteil Wilhelms an der preussischen und deutschen Politik unter seiner Herrschaft sei «gewichtiger» gewesen als der seines Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Bismarck. Eher als vom «Bismarckreich», wie es üblich ist, müsse man vom Kaiserreich sprechen.
Markerts Buch ist die erste wissenschaftliche Monografie über Wilhelm I., die unter Einschluss des verfügbaren Quellenmaterials entstanden ist. Mit der Neubewertung der Rollen Wilhelms und Bismarcks revidiert sie das Bild einer Epoche, in der die Grundlagen für die Gegenwart gelegt wurden.
Opposition von rechts
Bismarck als «weisser Revolutionär», der die liberal-revolutionären Forderungen der Zeit – deutsche Einheit und Verfassungsstaat – mit konservativen Mitteln, gewissermassen als «Revolution von oben», durchgesetzt habe: Das ist ein Konsens unter Historikern. Markert rüttelt an ihm, indem er aus den Quellen extrapoliert, dass Wilhelm eine eigene innen- und deutschlandpolitische Agenda verfolgt habe. In diese habe Bismarck sich dann lediglich eingereiht, wenn auch mit eigenen Initiativen.
Markert geht dabei auch vom Gegensatz zwischen Wilhelm und seinem Bruder Friedrich Wilhelm IV. aus., dem «Romantiker auf dem Thron». Dieser hatte sich vehement gegen die Revolution von 1848 gestemmt, aber war 1850 dennoch genötigt, eine vergleichsweise fortschrittliche Verfassungsurkunde zu erlassen und ein Zweikammerparlament einzuberufen. In den Jahren des Vormärz hatten die Hoffnungen der Liberalen auf ihm geruht.
Zu ihm habe der zwei Jahre jüngere Wilhelm in Opposition gestanden, betont Markert. Und zwar in Opposition von rechts. Nach 1848 aber habe Wilhelm den «nationalen Einigungsprozess», der eine liberale – und das hiess damals: eine linke – Idee war, «in monarchische Bahnen gelenkt». Das ist eine neue, durchaus überraschende Erkenntnis.
Persönliches Regiment
Markert spricht von einem «dynastischen Hijacking der Nationalbewegung», das Wilhelm als Methode der Herrschaftssicherung gezielt auserkoren und betrieben habe. Und dies lange bevor Bismarck 1862 in seine Dienste trat. Nicht erst Wilhelms Enkel Kaiser Wilhelm II., auf den der Begriff eigentlich angewendet wird, schon Wilhelm habe eine Art «persönliches Regiment» ausgeübt. Mit Bismarck als ihm entgegenarbeitendem, nicht eigenständigem Vollstrecker.
Auch in der Aussenpolitik setzte Wilhelm mit seiner starken Affinität zu Russland die politische Agenda, die bis zum Untergang Preussens und des Kaiserreichs gültig war, und hinterliess damit ein bis heute lastendes Erbe. «Die innere und äussere Neuordnung Deutschlands nach 1866», bilanziert Markert, «muss daher als Kulmination der monarchischen Agenda des ersten deutschen Kaisers bewertet werden.»
Der kleindeutsche Nationalstaat überdauerte nicht nur das Ende der Hohenzollernmonarchie, sondern auch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und die Teilung während des Kalten Krieges. Er sei untrennbar mit Wilhelms Biografie verbunden, betont Markert. Deshalb müsse «die deutsche Nationalstaatsgründung weniger als Folge vermeintlicher von bürgerlich-liberalen Interessen oder gar ökonomischen Zwängen vorangetriebene Entwicklung charakterisiert werden denn mehr als monarchiehistorischer Prozess».
Jan Markert: Wilhelm I. Vom «Kartätschenprinz» zum Reichsgründer. De-Gruyter-Verlag, Berlin/Boston 2025. 768 S., Fr. 69.90.