«Doktor Spielrein» handelt vom Leben der russisch-jüdischen Psychiaterin Sabina Spielrein. In der VR-Inszenierung im Schiffbau kommen einem Patientin und Arzt ganz nahe.
Am Schluss mag man sich fragen, wie wichtig das Stück, wie gut die Schauspieler waren. Noch mehr aber interessiert das eigene Verhalten. «Doktor Spielrein», am Mittwoch im Schiffbau uraufgeführt, ist eine Virtual-Reality-Inszenierung des deutsch-schweizerischen Künstlerkollektivs Raum + Zeit. Im Programm wird sie auch als «immersive Installation» umschrieben. Die Bezeichnung lässt also ein technisch-ästhetisches Experiment, ein Erlebnis aus digitaler Distanz erwarten.
Und dann so was: ein faszinierender Parcours, der die Zuschauer einzeln – im Abstand von zwölf Minuten – durch biografische Stationen der russisch-jüdischen Psychiaterin Doktor Sabina Spielrein leitet. Der Weg aber mündet aus virtuellen Phantasien mehrmals direkt wieder in kleine, reale Kammern, welche einen nicht nur mit der Gegenwart von Schauspielern konfrontieren, sondern auch mit den eigenen Reflexen und Instinkten.
In Freuds Dunstkreis
Die Ärztin Sabina Spielrein ist die passende Symbolfigur dieser zweigleisigen Erfahrung, weil ihr Leben selbst sich im Spannungsfeld seelischen Leidens und der wissenschaftlichen Forschung über die Psyche entfaltet hat. Später hat sie in Wien im Dunstkreis von Sigmund Freud überdies den psychopathologischen Begriff der Schizophrenie mitgeprägt.
Aufgewachsen ist Spielrein Ende des 19. Jahrhunderts in Russland, in Rostow am Don. Schon als Mädchen lehnte sie sich gegen die handgreifliche Autorität ihres sturen Vaters auf. Anlässlich einer Reise in die Schweiz kam sie nach Zürich, wo man sie nach einem Wutanfall in die Heilanstalt Burghölzli einlieferte. Die Diagnose: Hysterie.
Kindheit und Jugend stehen am Anfang des VR-Parcours. Nachdem man sich in einem hölzernen Kabäuschen eingefunden und eine VR-Brille aufgesetzt hat, zeigt sich Spielrein in der virtuellen Realität als Mädchen und als junge Frau. Dann wird man von den sanften Händen einer VR-Führerin in eine enge, klinisch weisse Kammer geführt. Hier darf man die Brille ablegen und zuhören, wie Spielrein mit jener sonderbaren Roboterpuppe spricht, die mitten im Raum steht und einen in den Fokus ihres Foto-Auges nimmt.
Weiter führt einen die VR-Brille in einen tiefen Wald, in den das Mädchen vor dem sie verfolgenden Vater geflohen ist, um Schutz bei einem freundlich-freakigen Waldkönig zu suchen. Bis dahin nimmt sich das Stück wie eine harmlose Traumsequenz aus. Dann wird es plötzlich zur realen Herausforderung.
Man legt die Brille wieder ab und findet sich abermals in einer engen, von Neon weiss beleuchteten Kammer wieder. Von Doktor Spielrein persönlich, verkörpert durch die Schauspielerin Tabita Johannes, erfährt man, dass Carl Gustav Jung sie als Assistenzarzt am Burghölzli einst durch eine Analyse zu heilen versucht habe. In der Intimität der Therapie hatte sich Spielrein in den Arzt verliebt. Sie warf ihm allerdings auch Abusus, sexuellen Missbrauch, vor.
Der Vorwurf ist umso irritierender, als er von der Schauspielerin direkt an den Zuschauer adressiert wird: Aha, ich soll jetzt also Doktor Jung sein? Um zu signalisieren, dass man der Situation gewachsen ist, forciert man vorsorglich ein Lächeln. Es fühlt sich sofort falsch an, gehemmt. Wahrscheinlich steht man jetzt auch noch blöd da, mit X-Beinen und mit in sich verkrampften Händen. Umso schlimmer, dass einem die Schauspielerin direkt in die Augen starrt. Sie kommt einem auch näher und näher mit ihrer Liebe und ihrem Hass. Und wenn sie plötzlich zu stürzen scheint vor Aufregung und hilfesuchend die Hand ausstreckt, weiss man nicht recht: Soll man zupacken?
Am Ende ein historisches Verbrechen
Wohl eher nicht. Denn die sogenannte vierte Wand, die die Theaterrealität vom Publikum trennt, ist hier zwar hauchdünn oder quasi virtuell, aber sie bleibt intakt; man wird jedenfalls nie physisch berührt. Und was auch immer gespielt wird: Es ist falsch, mit der Schauspielerin zu kommunizieren, auch nonverbal.
Wenn in der nächsten Episode aber Maximilian Reichert als C. G. Jung in die Rolle der Patientin Sabina Spielrein drängt, geht es einem nochmals ähnlich. «Was hast du geträumt, wovor hast du Angst?», fragt er. Langes Schweigen. Soll man etwas sagen? Schon wieder das gequälte Grinsen, das man vielleicht aus der intimen Zweisamkeit von Beichte, Busse oder Therapie kennt, wo eine Seite die Autorität geltend macht oder gar missbraucht.
Die Geschichte von Spielrein endet mit einem historischen Verbrechen. 1942 wird die Psychiaterin in Rostow von den Nazis erschossen. Das intelligente Stück aber, dem man eine neue ästhetische Erfahrung ebenso verdankt wie schmerzliche psychologische Selbsterfahrung, hat noch eine Pointe parat. In der letzten Kammer sitzt einem ein alter Bekannter gegenüber – in einer VR-Aufnahme, die eine gute Stunde alt ist.