Die deutsche Wirtschaft benötigt dringend nachhaltige Strukturreformen, um aus der tiefen Krise zu kommen. Die nächste Regierung muss den «Juncker-Fluch» überwinden, will sie das Land wieder wettbewerbsfähig machen.
«Wir wissen alle, was zu tun ist – aber wir wissen nicht, wie wir wiedergewählt werden können, nachdem wir es getan haben»: Dieser Ausspruch von Jean-Claude Juncker ist als «Juncker-Fluch» sogar in die ökonomische Literatur eingegangen. Geäussert hat ihn der einstige Luxemburger Premierminister und spätere Präsident der EU-Kommission gleich mehrfach während seiner Zeit als Vorsitzender der Euro-Finanzminister von Anfang 2005 bis Anfang 2013.
Was zu tun wäre
Die Äusserung beschreibt treffend die derzeitige Lage in Deutschland. Was es braucht, damit ein krisengeschütteltes Land seine internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder stärken kann, ist hinlänglich bekannt.
Die Ökonomen Veronika Grimm, Lars Feld und Volker Wieland, allesamt aktive oder ehemalige Mitglieder des Sachverständigenrats Wirtschaft («Wirtschaftsweise»), haben es dieser Tage im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft im Gutachten «Für eine echte Wirtschaftswende» erneut umrissen: Senkung der Arbeitskosten durch weniger restriktive Regulierung, Stärkung der Arbeitsanreize durch Reformen im Sozialbereich, Umschichtungen im Staatshaushalt hin zu mehr Investitionsausgaben, Senkung der Körperschaftssteuer, Abbau übermässiger Regulierung und Reduktion des Bürokratieaufwands sowie marktwirtschaftlicher Klimaschutz durch CO2-Bepreisung lauten einige Stichworte.
Gewiss, derzeit sind sich Parteien und Ökonomen in wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen, etwa zur Schuldenbremse, nicht einig. Aber selbst dort, wo alle dasselbe fordern, etwa beim Bürokratieabbau, passiert viel zu wenig. Warum sind Strukturreformen so schwierig?
Damoklesschwert Wahl
Einige Antworten auf die Frage hat Jochen Andritzky, der Mitgründer des Think-Tanks Zukunft-Fabrik 2050 und ehemalige Generalsekretär des Sachverständigenrats Wirtschaft. Die Erfolge von Reformen würden sich meistens erst mit grosser Zeitverzögerung einstellen. «Die Wissenschaft ist sich darüber relativ einig, dass Reformen für eine Deregulierung und mehr Wettbewerb schliesslich zu mehr Wachstum führen», erklärt der Ökonom im Gespräch. Es könne allerdings Jahre dauern, bis die Wachstumseffekte spürbar würden.
Das macht grössere Reformen wenig attraktiv für Politiker, die im Vierjahresrhythmus wiedergewählt werden möchten. Es ist leichter, den Bürgern das Blaue vom Himmel zu versprechen in Form von sozialen Wohltaten oder massiven Steuersenkungen, als heilsame Strukturreformen anzukündigen. Deshalb haben es selbst reformwillige Parteien schwer, für ihre Vorhaben die nötigen Mehrheiten zu organisieren. Zugleich wird jede Regierung von der jeweiligen Opposition bedrängt, die den Bürgern ihrerseits Wohltaten in Aussicht stellt.
Zudem hängen die Erfolge einer Reform laut Andritzky auch vom generellen Umfeld ab, beispielsweise der konjunkturellen Entwicklung im Land selbst oder bei einer sehr exportstarken Nation wie Deutschland von der Weltwirtschaft. Weiter sei der Wachstumseffekt bei vielen Strukturreformen in einem guten Konjunkturumfeld besser.
Wenn eine Regierung zum Beispiel Lockerungen beim Kündigungsschutz zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes einführt, fällt das in einer boomenden Wirtschaft kaum auf. Befindet sich ein Land jedoch in einer Rezession, nutzen Firmen das neue Instrument zur vermehrten Entlassung von Mitarbeitern, was die Arbeitslosigkeit erhöht. Daher sollte eine Liberalisierung idealerweise mit einer Stärkung des sozialen Netzes einhergehen, sofern ein Staat dafür noch finanzkräftig genug ist.
Was die Geschichte zeigt
Die historische Erfahrung aus vielen Ländern zeigt jedoch, dass Reformen häufig erst dann angegangen werden, wenn es wirtschaftlich sehr schlecht läuft und die Regierung schon mit dem Rücken zur Wand steht. Das spiegelt sich in dem Spruch «never waste a good crisis»; man sollte also eine Krise nicht ungenutzt verstreichen lassen. In Deutschland sind dafür die Hartz-IV-Arbeitsmarktreformen der Regierung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder ein gutes Beispiel; sie sind im kollektiven Bewusstsein eingebrannt.
In den frühen Nuller-Jahren steckte Deutschland in einer ähnlichen Flaute wie jetzt, gekoppelt mit hoher Arbeitslosigkeit. In Reaktion darauf hat die Regierung Schröder 2003 unter dem Slogan «fordern und fördern» die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe für erwerbsfähige Personen zum Arbeitslosengeld II zusammengeführt und die Arbeitsanreize erhöht. Die Reform brachte Schwung in den verkrusteten Arbeitsmarkt und trug in der folgenden Dekade erheblich zur stark sinkenden Arbeitslosigkeit sowie zu einem langen, nur durch die Finanzkrise unterbrochenen Aufschwung bei.
Doch die «Agenda 2010» bietet auch zwei ernüchternde Lehren: Erstens galt das Land jahrelang als «kranker Mann Europas», bevor es sich zu dieser Korrektur durchringen konnte. Zweitens verlor Schröder auch aufgrund dieser Reform die Bundestagswahl 2005.
Derzeit sei der Leidensdruck bei der Bevölkerung noch nicht gross genug, antwortete Lars Feld vom Walter-Eucken-Institut Freiburg bei der Präsentation des erwähnten Gutachtens auf die Frage, warum so wenig geschehe. So ist die Arbeitslosigkeit trotz der langen Stagnation bis anhin erst wenig gestiegen, weil der Personalabbau in manchen Betrieben einhergeht mit einem Arbeitskräftemangel in anderen Firmen.
Die Verlierer sind lauter
Ein weiterer wichtiger Punkt sei, dass jede Reform Gewinner und Verlierer schaffe, sagt Andritzky. Während sich die Gewinner still über ihre Verbesserungen freuten, würden sich die Verlierer lautstark beklagen. Zudem seien die Vorteile der Gewinner oft stark verstreut und damit weniger konkret als die Nachteile der Verlierer.
Wenn beispielsweise eine geschützte Branche, etwa das Taxigewerbe, im Zuge einer Liberalisierung Privilegien verliere, spüre das jeder Taxifahrer direkt. Vom gestärkten Wettbewerb, zum Beispiel durch den Markteintritt von Uber, würden zwar dank mehr Angebot und tieferen Preisen alle Kunden profitieren, doch sei die Verbesserung für den Einzelnen nur geringfügig bemerkbar. Gleichwohl würden viele Reformen in Summe den Wohlstand aller spürbar erhöhen.
Eine Geschichte der Aufrufe
In Deutschland spielt nach Ansicht von Andritzky bei der Reformunfähigkeit auch der Bedeutungsverlust der Ordnungspolitik eine wichtige Rolle. Statt grundlegender Strukturreformen bestimmten vor allem punktuelle Interventionen wie das Heizungsgesetz die politische Agenda. Ein Beispiel für diesen Bedeutungsverlust zeige sich etwa am Sachverständigenrat Wirtschaft. Dieser war über viele Jahre das ordnungspolitische Gewissen Deutschlands, das die Regierung mit seinen Vorschlägen inspirierte oder piesackte, je nach Sichtweise. Inzwischen sind dort liberale Ökonomen aufgrund der Neubesetzungen während der letzten Jahre der grossen Koalition und der drei Ampel-Jahre in der Minderheit.
Timing und Sündenböcke
Was kann eine Regierung tun, um trotz diesen Hindernissen Reformen voranzubringen? Das beste Zeitfenster für Reformen ist typischerweise direkt nach der Wahl. Dann besteht die Chance, dass die angestossenen Massnahmen bis zur nächsten Wahl erste Erfolge zeigen und die Bürger die zu Beginn negativen Effekte vergessen haben.
Für Regierungen sei es darüber hinaus gut, einen Sündenbock für anfangs schmerzliche Reformen zu haben, sagt Andritzky. Im Fall von Griechenland während der europäischen Staatsschuldenkrise sei das die Troika gewesen, also das Expertengremium der Kreditgeber, und bei vielen Schwellen- und Entwicklungsländern sei das oft der Internationale Währungsfonds (IWF). Diesen rufen Länder zur Hilfe, wenn sie finanziell vor dem Kollaps stehen.
Eine andere Möglichkeit ist es, einen Expertenrat einzuführen, der schliesslich die unangenehmen Reformideen unterbreitet. Auch in diesem Fall kann die Regierung auf einen Sündenbock verweisen.
Was heisst das für Deutschland? Da es weder «reif für den IWF» ist, noch eine Troika braucht, muss die nächste Regierung den Reformwillen selbst aufbringen. Schafft sie das nicht, droht die weitere Erosion der Wettbewerbsfähigkeit; der Reformdruck würden dann weiter steigen.
Wenn man weitermache wie bis anhin und versuche, die Probleme über Verschuldung kurzfristig nicht aufscheinen zu lassen, würden bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 2029 die Extremisten wahrscheinlich hohe Zuwächse verzeichnen, sagte Veronika Grimm bei der Präsentation des Wirtschaftswende-Gutachtens. Denn die wirtschaftlichen Probleme würden dann nicht gelöst, und den Menschen ginge es schlechter.
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