Putins Krieg spaltet die deutsche Gesellschaft und schwächt die Wirtschaft. Das Land hat daher ein Interesse an einem baldigen Frieden. Doch zu welchem Preis?
Seit der Münchner Sicherheitskonferenz vom vergangenen Wochenende weiss Europa, dass es mehr oder weniger allein dasteht. Die neue Regierung in den USA hat deutlich gemacht, dass sie sich den Krieg in der Ukraine durch einen Kompromissfrieden mit Putin vom Hals schaffen will. Anschliessend sollen die Europäer den möglicherweise über ihren Kopf hinweg verhandelten «Frieden» sichern. Entsprechend gross war die Empörung. Eilig wurden Krisengipfel einberufen.
Doch vor allem für Europas grösstes und wirtschaftsstärkstes Land sind die Entwicklungen nicht so eindeutig negativ, wie sie von Politikern wie Bundeskanzler Olaf Scholz, Verteidigungsminister Boris Pistorius (beide SPD) und Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in München dargestellt wurden.
Es ist vielmehr so, dass sich Deutschland durch den russischen Krieg in der Ukraine in einer strategischen Zwickmühle befindet.
«NZZ Pro» – geopolitische Einordnung im Überblick
Kurzgefasst: Die Initiative von Trump, den Krieg in der Ukraine durch bilaterale Verhandlungen mit Putin zu beenden, könnte für Deutschland Fluch und Segen zugleich sein.
Geopolitische Einschätzung: Der Krieg in der Ukraine hat die gesellschaftliche Spaltung in Deutschland vertieft und vor allem energieintensive Teile der Wirtschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Blick voraus: Es ist zu befürchten, dass sich bei einer Fortdauer des Krieges diese Tendenzen vertiefen. Zugleich kann Deutschland kein Interesse an einem Diktatfrieden haben.
Einerseits herrscht unter den etablierten Parteien der Bundesrepublik der Konsens, dass Russland mit seinem Landraub in der Ukraine nicht davonkommen dürfe. Dies könnte gravierende geopolitische Folgen für die internationale Ordnung haben. Falls sich zeigt, dass Putin Erfolg hat, könnten sich er und andere Autokraten in der Welt dazu ermutigt fühlen, weiter gegen Nachbarländer vorzugehen. Im Fall Russlands etwa gegen die Moldau, Georgien oder die baltischen Staaten. Vor allem in letztgenanntem Fall – Estland, Lettland und Litauen sind Nato-Mitglieder – wäre ein grosser Krieg in Europa nicht mehr ausgeschlossen.
Andererseits haben die klare proukrainische Haltung, die Waffenlieferungen und die Sanktionen gegen Russland erhebliche Folgen für Deutschland. Zum einen leidet die Wirtschaft unter den hohen Kosten für Energie, zum anderen stärkt der proukrainische Kurs populistische Ränder. Je länger der Krieg dauert, desto mehr gefährdet er die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität Deutschlands.
Kardinalfehler im Umgang mit Russland
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist es das westliche Ziel, Russland militärisch und wirtschaftlich so weit zu schwächen, dass es den Krieg beendet. Eine kurzfristige harte Haltung, so die Annahme auch in Berlin, werde zu einem langfristigen, diplomatisch ausgehandelten Frieden in Europa führen. Doch der Plan ist nicht aufgegangen.
Mehrere Kardinalfehler in diesem Krieg wurden bereits vor seinem Ausbruch begangen. Hier spielte Deutschland eine entscheidende Rolle. Beim Bau der Gaspipelines Nord Stream I und II nahmen die Regierungen der Christlichdemokratin Angela Merkel offenbar die Gefahr in Kauf, dass Russland mit den Einnahmen seine Kriegskasse füllt und den Überfall auf die Ukraine vorbereiten kann. Wie das gerade veröffentlichte Buch «Nord Stream. Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt» darlegt, ist dies dem Kanzleramt in Berlin klar gewesen.
Hinzu kommt die Beschwichtigungspolitik, die Deutschland jahrelang gegenüber dem Kreml betrieb. Bis zuletzt glaubten vor allem Sozialdemokraten, Putin insbesondere durch wirtschaftliche Verflechtung einhegen zu können. Doch dieser fühlte sich durch die Haltung in Berlin eher bestärkt in seinem Kriegskurs.
Deutschland hat sich in das strategische Dilemma, in dem es heute gemeinsam mit Europa steckt, selber hineinmanövriert. Die Folgen sind erheblich.
Der Krieg in der Ukraine und der damit einhergehende Aufstieg populistischer Parteien sind verantwortlich dafür, dass sich in Deutschland immer schwerer stabile politische Mehrheiten bilden lassen. Wenige Tage vor der Bundestagswahl am Sonntag liegt die Rechtsaussenpartei AfD stabil bei rund 20 Prozent.
Die AfD profitiert vom Krieg in der Ukraine
Der Aufstieg der AfD ist zwar vor allem der illegalen Migration geschuldet. Er hat aber auch mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Waffenhilfe für die Ukraine und den wirtschaftlichen Folgen des Krieges zu tun. Die Partei profitiert von der wachsenden Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung.
Die deutsche Gesellschaft ist gespalten zwischen denjenigen, die einen schnellen Frieden durch Verhandlungen bevorzugen, und jenen, die auf eine Niederlage Russlands setzen. Nach wie vor gibt es allerdings eine Mehrheit, die sich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausspricht.
Und nicht nur die AfD verdankt ihren Aufstieg teilweise der Ukraine-Politik der Regierung. Auch das linkspopulistische Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die Linkspartei versuchen, die Sorge der Deutschen über einen fortdauernden Krieg für sich zu nutzen. Sie gerieren sich dezidiert als «Friedensparteien».
Wie die AfD profitieren sie dabei von den Kriegsfolgen. Das Ende der Versorgung mit Billiggas aus Russland hat zu einem Anstieg der Energiepreise und damit zu höheren Lebenshaltungskosten in Deutschland geführt. Das trifft besonders Haushalte mit niedrigem Einkommen. AfD, BSW und Linke suggerieren, durch einen schnellen Frieden liesse sich die Gasversorgung aus Russland schnell reaktivieren. Dann sänken die Energiekosten.
Die Wagenknecht-Partei und die Linke sahen sich in Umfragen jüngst im Bereich der Fünf-Prozent-Marke. Erst am Wahlabend wird klar sein, ob sie den Einzug in den Bundestag schaffen. Sollte das der Fall sein, dürfte die Bildung einer stabilen Regierung noch schwieriger werden als ohnehin schon. Die gescheiterte Ampelkoalition zeigt, wie die ideologischen Unterschiede der einzelnen Parteien die deutsche Politik lähmen können.
Zugleich hat das kriegsbedingte Ende der russischen Gaslieferungen mit dafür gesorgt, dass Deutschland in eine Energiekrise geraten ist. Unternehmen, die günstige Energie brauchen, um konkurrenzfähig zu bleiben, verlagern Teile ihrer Produktion ins Ausland. Je länger der Krieg dauert, desto grösser ist die Gefahr einer weiteren Deindustrialisierung Deutschlands.
Deutschland steht vor Herausforderungen
Allerdings hat der Umkehrschluss Tücken. Wenn es Trump gelänge, einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine auszuhandeln, würde das nicht unbedingt bedeuten, dass bald wieder billiges Gas aus Russland nach Deutschland flösse.
Denn erstens hiesse das, Geschäfte mit Kriegsverbrechern zu machen. Und zweitens füllte es erneut Russlands Kriegskasse, was sich dann nicht mehr nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die Nato und damit gegen Deutschland selbst richten könnte.
Es sind daher auch die verteidigungspolitischen Folgen des Ukraine-Krieges zu betrachten. Deutschland muss in den kommenden Jahren enorme Summen ins Militär investieren, um wieder verteidigungsfähig zu werden. Diese Ausgaben werden Politiker dazu zwingen, im Staatshaushalt neue Prioritäten zu setzen. Das könnte zu weiteren gesellschaftlichen Verwerfungen führen.
Zudem steht Deutschland vor der Frage, wie es den steigenden Bedarf an Soldaten decken soll. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht oder eine Dienstpflicht für junge Frauen und Männer könnte ebenfalls zur gesellschaftlichen Zerreissprobe werden. Doch in Anbetracht der Entwicklungen am vorigen Wochenende in München dürfte kaum ein Weg an höheren Verteidigungsausgaben und einem neuen Wehrmodell vorbeiführen.
50 000 deutsche Soldaten in der Ukraine?
Die neue amerikanische Regierung hat an der Münchner Sicherheitskonferenz zweierlei deutlich gemacht: Zum einen müsse Europa erheblich mehr Truppen und Gerät bereitstellen, zum anderen würden die Europäer bei der möglichen Absicherung eines Waffenstillstands in der Ukraine die Hauptlast zu tragen haben.
Der bisherige deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hat mehrfach zu verstehen gegeben, dass er die Beteiligung der Bundeswehr an einer solchen Truppe für möglich hält. In Fachkreisen heisst es, im Verteidigungsministerium in Berlin würden Modelle für eine Ukraine-Truppe kursieren, gemäss denen Deutschland bis zu 50 000 Soldaten stellen müsste.
Auch das ist Teil der strategischen Zwickmühle, in der Deutschland steckt: Es muss möglicherweise lange Zeit einen personal- und kostenintensiven, vielleicht sogar verlustreichen Militäreinsatz führen, dessen langfristige Aussichten nach heutigem Stand unklar sind.
Ob Russland wirklich gewillt ist, einen mit Trump geschlossenen Friedensvertrag einzuhalten, hängt auch von der militärischen Abschreckungsfähigkeit der Europäer ab. Seit der Annexion der Krim vor mehr als zehn Jahren hatten die Europäer Zeit, diese Fähigkeit aufzubauen. Doch sie haben sich zu wenig bewegt. Nun steht Europa allein da.