Über drei Jahrzehnte lang hegte Europa die Erwartung, Krieg sei ein Auslaufmodell. Nun ist er zurück, und es zeigt sich: Regeln gelten nur so lange, wie eine Autorität bereit ist, sie durchzusetzen.
Mittlerweile nimmt sich die Weltordnung wieder etwas weniger chaotisch aus, als das noch vor zwei, drei Wochen der Fall war: Zwischen Israel und Iran herrscht Waffenstillstand, Rwanda und die Demokratische Republik Kongo haben einen Friedensvertrag unterzeichnet, und US-Präsident Trump hat sich auf dem Nato-Gipfel in Brüssel zu amerikanischen Sicherheitsgarantien für Europa bekannt.
Einige Kriege und Konflikte, die uns jüngst in Angst und Schrecken versetzt haben, sind vorerst stillgestellt. Aber es handelt sich dabei keineswegs um alle Kriege und Konflikte: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht in unverminderter Härte weiter, und keiner kann sagen, wann und wie er beendet werden kann; der Krieg im Gazastreifen ist ebenfalls nicht zu Ende, und die Bürgerkriege in Libyen und im Sudan dauern an. Sie finden freilich in Europa wenig Aufmerksamkeit, auch wenn sie mit eine Ursache der Migrationsbewegungen sind.
Dass das iranische Nuklearprogramm tatsächlich um Jahre zurückgeworfen ist, erscheint nach den Einlassungen der US-Geheimdienste fraglich. Donald Trumps erste vollmundige Erklärungen waren deutlich übertrieben. Das hat er inzwischen indirekt selbst eingestanden, als er damit drohte, er werde weitere Luftangriffe anordnen, wenn das iranische Regime nicht definitiv auf die Entwicklung von nuklearen Waffen und Trägersystemen verzichte. Mehr als eine Atempause dürfte die jüngste Beruhigung im Chaos der Weltpolitik also nicht sein. Wenn es denn überhaupt eine Atempause ist und nicht ein Atemholen für den nächsten Schlagabtausch.
Sanktionen statt Bomben
Warum aber ist es in jüngster Zeit zu dieser Häufung von Kriegen gekommen? In Europa hatten wir über drei Jahrzehnte lang die Erwartung gehegt, der zwischenstaatliche Krieg sei ein historisches Auslaufmodell, militärische Gewalt werde durch wirtschaftliche Macht als Steuerungsmodus der internationalen Politik abgelöst. Die Reaktion mit bewaffneter Macht werde mehr und mehr durch wirtschaftliche Sanktionen abgelöst, wenn es darum gehe, einen Regelbrecher und Störer der Ordnung zur Räson zu bringen, und internationale Schiedsgerichte würden die Rolle von Militärschlägen übernehmen und Konflikte schiedlich-friedlich beenden.
Zwischenstaatliche Kriege, so waren wir überzeugt, werde es dann nicht mehr geben, und bei innergesellschaftlichen Kriegen werde die Schutzverantwortung der Weltgemeinschaft, eine «responsibility to protect», greifen, um für ein Ende der in Form von Massakern ausgetragenen Bürgerkriege zu sorgen. Die Europäer sahen sich auf dem Weg in eine Welt, in der es möglich sein würde, «Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen».
An die Stelle dessen ist inzwischen nicht nur eine Häufung von Kriegen getreten, sondern auch das Erfordernis, den Frieden durch die Bereitstellung einer immer weiter anwachsenden Menge von Waffen zu sichern. Der Erwartungshorizont eines stabilen und zugleich kostengünstigen Friedens hat sich aufgelöst und wird auf absehbare Zeit nicht wiederkehren.
Macht im Dienst der Ordnung
Was ist falsch gelaufen? Ja, es gibt eine Reihe von Entscheidungen, die im Nachhinein betrachtet auch anders hätten getroffen werden können. Aber ob das wirklich dazu geführt hätte, dass wir weiterhin in einer friedlichen Welt lebten, dass die Russen die Ukraine nicht angegriffen und die Hamas Israel nicht überfallen hätte, ist zu bezweifeln.
Nicht kontingente Entscheidungen, sondern strukturelle Probleme der regelbasierten Ordnung haben zu deren Durchlöcherung geführt. Die USA haben an politischer Autorität verloren: Der US-Präsident musste die B-2-Bomber gegen Iran einsetzen, um in Teheran (und Tel Aviv) mit der Anordnung einer Waffenruhe bei beiden Seiten Gehör zu finden. Es bedurfte der Waffengewalt, um Autorität zu erlangen. Und es ist überaus fraglich, ob eine solcherart erlangte Autorität lange halten wird oder ob es erneut – und immer wieder – einer Demonstration militärischer Überlegenheit bedürfen wird.
Die Autorität eines Hüters der Weltordnung ist die Voraussetzung für die Regelkonformität politischer Akteure, ohne dass sie dazu mit Gewalt gezwungen werden müssen. Die elementaren Voraussetzungen eines Friedens ohne Gewaltanwendung sind nie hinreichend geklärt worden, insofern stand die regelbasierte Ordnung immer unter dem Vorbehalt, dass es einen unwiderstehlichen Akteur geben musste, der seine Macht in den Dienst dieser Ordnung stellte. Wo das nicht der Fall war, stand die Ordnung auf wackeligen Füssen und drohte zusammenzubrechen, sobald einer mit grosser Wucht dagegen trat. Das war Ende Februar 2022 mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine der Fall.
Magisches Denken
Wer aber war der Hüter dieser Ordnung – oder hätte es zumindest sein können? Viele Europäer setzten auf die Vereinten Nationen, die als Garant der Regeln dazu legitimiert waren. Aber die Uno war durch das Veto der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats fast immer blockiert, sobald es für eine Vetomacht um existenzielle Fragen ging. Die Weltorganisation war und ist ein schwacher Hüter, wenn es ernst wird. Andere Europäer vertrauten auf die USA, die hinreichend Macht hatten, um Regelkonformität gegen Regelbrecher durchzusetzen – ausser es handelte sich um die Atommächte Russland und China.
Doch die USA hatten eine fatale Neigung, die Rolle des Hüters mit der des Herrn zu verwechseln, indem sie sich nicht an den Regeln, sondern an ihren eigenen Interessen orientierten. So bildete sich eine antiamerikanische Koalition, die von Russland und China angeführt wurde und der nahezu der gesamte globale Süden angehörte.
Relevant wurde das, als die Generalversammlung der Uno Russland wegen seines Angriffs auf die Ukraine verurteilen und Sanktionen verhängen sollte und die Genannten dagegen stimmten oder sich enthielten. Es war tendenziell die Hälfte der Menschheit, die sich enthielt oder gegen das Belegen des Regelbrechers mit Sanktionen stimmte. Damit war die regelbasierte Ordnung erledigt, auch wenn einige Politiker das nicht wahrhaben wollen und glauben, die Regelstruktur durch Beschwörungsformeln retten zu können. Aber das ist magisches Denken, das noch nie geholfen hat.
Kein Silberstreif am Horizont
Es kommt hinzu, dass sich die USA zunächst schrittweise und dann krachend aus den Aufgaben der Hüterin zurückgezogen haben, und das aus Gründen, die durchweg nachvollziehbar sind. Globale Regelkonformität und ein darauf begründeter Friede sind ein kollektives Gut, von dessen Inanspruchnahme keiner ausgeschlossen werden kann, auch dann nicht, wenn der Betreffende zur Verfügbarkeit dieses Gutes nichts, aber auch gar nichts beiträgt.
Die USA in der Position des Hüters hingegen mussten das meiste dazu beitragen, und so fragten sich deren Eliten wie ihre Wähler, ob das auf Dauer nicht eine unfaire Benachteiligung sei: Donald Trumps «America first» war eine krachende Verabschiedung aus der Hüterrolle und eine entschiedene Hinwendung zu den eigenen nationalen Interessen – auch wenn man zuweilen den Eindruck hat, dass Trump nicht so genau wisse, was die amerikanischen Interessen sind. Für die globale Ordnung ist indes nur relevant, dass ihn das Wohl der anderen nicht interessiert und er auf die Regeln pfeift, wenn sie ihn daran hindern, seine Interessen zu verfolgen.
Damit hatten die Regelbrecher eine Carte blanche, und auch die USA setzten sich in der Gruppe der Regelbrecher fest. Aus dem Kosmos der regelbasierten Ordnung entstand so das Chaos der internationalen Politik, in dem wir uns zurzeit befinden. Es gibt keinen Silberstreif am Horizont, der die Heraufkunft einer neuen Regelordnung ankündigt. Auch und gerade die Europäer werden sich in einer chaotischen Ordnung einrichten müssen, um sich zu behaupten. Schaffen sie das nicht, haben sie strukturelle Nachteile hinzunehmen.
Machtpolitisches Lehrstück
Was das heisst, hat man jüngst an den Bemühungen sehen können, Iran zu Verhandlungen über das Ende seines Atomprogramms zu bewegen. Die Europäer verfügten über keine Zwangsinstrumente, mit denen sie das iranische Regime zu Verhandlungen motivieren konnten, und also wurden sie hingehalten und konnten nichts bewegen. Israel und die USA verfügen hingegen über diese Instrumente und setzten sie entschlossen ein.
In einer machtbasierten Ordnung sind überlegen geführte Luftangriffe eine Alternative zum blossen Angebot von Verhandlungen, zumindest auf dem Weg zu deren Erzwingung. Das war ein machtpolitisches Lehrstück, das den Europäern vor Augen führte, wie man dem Kämpfen ein Ende setzen und Verhandlungen erzwingen kann.
Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass derlei Schule macht und dass der, der nur auf die Regeln verweist, politisch den Kürzeren zieht. Wo Chaos herrscht, braucht man die Mittel, um sich im Chaos behaupten und einem Minimum an Regeltreue Geltung verschaffen zu können. Der Augenblick des Atemholens, in dem wir uns gegenwärtig befinden, gibt uns die Chance, über die neuen Konstellationen nachzudenken und uns neu zu positionieren. «Augenblick des Atemholens» heisst freilich, dass wir dabei nicht beliebig Zeit haben. Europa muss sich beeilen.
Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin.