Die Originale der Alternativen Liste treten ab. Was bleibt von der einst so lauten Protestpartei?
Eine Partei braucht zwei Dinge, um zu überleben: eine klare Botschaft an die Stimmbevölkerung und charismatische Persönlichkeiten.
Als die Alternative Liste 1990 gegründet wird, verfügt sie über beides. Sie ist die Partei der «Bewegten» der achtziger Jahre, Erbe von parteipolitischen Vorläufern mit kommunistischem Einschlag. Sie ist deshalb attraktiv für all jene, die links wählen, aber mit dem sozialdemokratischen Establishment nichts anfangen können.
Und in Niklaus Scherr hat die Alternative Liste ihren unbestrittenen Anführer. Scherr gilt als Schnelldenker mit grosser Sachkompetenz, zuweilen aber auch als belehrend, ja gar als «Macker», wie es einmal aus den eigenen Reihen während eines Streits in der Fraktion heisst.
Innerlinke Oppositionspartei, Alphatierchen an der Spitze: Das Modell funktioniert. Es überlebt sogar den Politiker Scherr, der 2017 nach 39 Jahren aus dem Stadtparlament zurücktritt.
Denn die Partei bringt weitere Typen desselben Schlags hervor: dossierfeste Rhetoriker mit Lust am grossen Auftritt. Walter Angst zum Beispiel, langjähriger Fraktionschef im Stadtparlament und von Beruf Kommunikationschef des Zürcher Mieterverbandes. Oder Andreas Kirstein, bekannt für im perfekten Bühnendeutsch vorgetragene Voten mit Pathos und einem Schuss Eitelkeit.
Nun jedoch ist der Umbruch in der Partei unübersehbar. Kirstein wird diesen Montag seinen Rücktritt bekanntgeben, nach 12 Jahren im Rat. Walter Angst ist schon letztes Jahr aus dem Rat geschieden, nach 21 Jahren. Wiederum ein Jahr davor hatte 2022 Richard Wolff, der erste und bisher einzige Stadtrat der AL, die politische Bühne verlassen.
All dies geschieht zu einer Zeit, da es der Partei nicht gutgeht. Nach Jahren des Wachstums hat die AL bei den letzten Wahlen 2022 Wähleranteile verloren – und zugleich ihren Sitz im Stadtrat eingebüsst.
Es ist nicht nur ein personeller Umbruch. Auch das einst so klare Profil der AL ist heute inhaltlich infrage gestellt. Unter anderem deshalb, weil sich das Stadtzürcher Polit-Biotop verändert hat. Die Sozialdemokraten treten nicht mehr so staatstragend auf wie einst. Obwohl sie vier von neun Stadträten stellen, spielen sie die Rolle einer Oppositionspartei und lancieren laufend Initiativen.
Im Rat überbieten sich Exponenten von SP und Grünen mit Vorstössen aller Art. Walter Angst hat dies einmal nicht unpassend als «innerlinken Überbietungswettbewerb» bezeichnet.
Die Unterschiede zwischen den linken Parteien sind im Rat bestenfalls rhetorisch. Kommt es zur Schlussabstimmung, befinden sich SP, Grüne und AL im Gleichklang. Der AL droht die Unverwechselbarkeit abhandenzukommen. Als besonders staatskritisch tritt sie nicht mehr auf. Das war früher auch schon anders.
Und auch personell verschwimmen die Unterschiede zwischen den linken Stadtzürcher Parteien. Das zeigt das Beispiel des Mieterverbandes. Seit das Vorstandsmitglied Mischa Schiwow 2023 ebenfalls aus dem Rat geschieden ist, ist der Verband nicht mehr durch die AL im Rat vertreten. Das ist bemerkenswert, weil die Nähe zum Mieterverband stets ein Alleinstellungsmerkmal der Partei war.
Heute ist Felix Moser der einzige Vertreter des Verbandes im Stadtparlament. Moser war bis vor kurzem Parteipräsident – der Grünen.
Auch am «Überbietungswettbewerb» zwischen Grünen und SP nehmen die Alternativen längst teil. In einem Vorstoss von vergangener Woche fordern sie, dass die Stadt Zürich auf praktisch sämtliche Werbung auf Stadtgebiet verbiete, weil Werbung «die Konsumkultur» aufheize. Eine unrealistische Maximalforderung, die ebenso gut aus der Feder der Grünen stammen könnte.
Dass der scheidende Andreas Kirstein von anderem Schrot und Korn ist, zeigt der letzte Vorstoss von seiner Seite. Er beschäftigt sich darin mit der Beteiligungsstrategie der Stadt Zürich, mit Eigenkapitalrendite und der Verwendung der Dividenden. Trockene Materie, eingereicht von einem, der offenkundig gerne an Details herumkaut.
Kirstein tritt aus beruflichen Gründen zurück, weil er neben einem erwachsenen Sohn zwei kleine Kinder im Alter von zweieinhalb und neun Jahren hat und vergangene Woche 61 Jahre alt geworden ist. Kirstein ist im April CEO einer staatsnahen Firma geworden, die IT-Lösungen für Wissenschaftsbibliotheken anbietet.
Einen Generationenwechsel gebe es in der AL auf jeden Fall, bestätigt Kirstein auf Anfrage. Aber er verlasse die Fraktion mit einem guten Gefühl, einem deutlich besseren, als dies vor einem Jahr der Fall gewesen wäre. Und um die Daseinsberechtigung der AL macht er sich schon gar keine Sorgen.
Zwar sei die Konkurrenz, namentlich die SP, tatsächlich deutlich nach links gerückt. «Aber sie ist und bleibt die staatstragende linke Partei. Da haben wir einen Glaubwürdigkeitsvorsprung.» Und in den Kernthemen der AL sei diese nach wie vor besser aufgestellt.
Als Beispiel nennt er die Wohnungsfrage: Dort sei eine neu lancierte AL-Initiative handwerklich klar besser als der unglückliche Versuch der SP, aus dem der Stadtrat nun einen umsetzbaren Gegenvorschlag zimmern müsse. Die AL zielt auf die Umsetzung des neuen Planungs- und Baugesetzes: Gewährt man einem Bauherrn höhere bauliche Ausnützung, soll die gesamte Mehrausnützung künftig zwingend preisgünstiger Wohnraum sein.
Es gibt schon Vorstösse von Parteikollegen, die Kirstein etwas weniger entsprechen. Zum Beispiel, wenn diese «die allerletzte Meile zur Verbesserung der bereits hervorragenden Arbeitsbedingungen des städtischen Personals» zum Inhalt hätten. Aber Platz habe das in einer Partei wie der AL durchaus.
Als persönlichen Erfolg sieht Kirstein etwa die Senkung von Gebühren, die er gemeinsam mit dem FDP-Gemeinderat Albert Leiser erkämpft habe: für Abfall, Wasser und Abwasser. Und bei der Fernwärme stehe man kurz vor der Einführung eines Einheitstarifs. Ihn stört, dass diese wichtigen Themen öffentlich kaum wahrgenommen würden. «Alles, was über 100 Millionen Franken kostet, interessiert in der Stadt Zürich niemanden.»
Immerhin: Die neue AL-Fraktion ist nicht nur deutlich jünger, sondern auch weiblicher als auch schon, mit drei Frauen und fünf Männern. Dies, nachdem die Partei während Jahren Mühe hatte, Frauen in wichtige Positionen zu bringen und auch zu halten. Die Frage ist, ob das Interesse an den «alten» AL-Themen wach bleibt – und ob es der Partei damit gelingt, ihr Alleinstellungsmerkmal zu halten.
Dem werde so sein, versichert Kirstein – nur schon deshalb, weil sein direkter Nachfolger seine Positionen und Interessen grösstenteils direkt übernehmen werde. Dessen Profil widerspricht dem Bild des Generationenwechsels übrigens fundamental: Er heisst Christian Häberli, ist von Beruf Klimatologe, trägt einen weissen Bart – und ist 63 Jahre alt.